Die Hüter der Schatten
heute die Farbe von Mundspülung aufwies, und verschwand. Fast augenblicklich kam sie zurückgerannt. Ihr Gesicht war kalkweiß.
»Les! Die weiße Katze …«
Abrupt stand Leslie auf. »Was ist passiert, Em?«
»Sie liegt im Atelier, und überall ist Blut …«
»Warte, ich hole schnell den Erste-Hilfe-Kasten«, rief Leslie und eilte ihrer Schwester nach, den blauweißen Kasten mit dem roten Kreuz unter den Arm geklemmt. Viel Erfahrung besaß sie damit nicht, doch während ihres Studiums und später beim Praktikum hatte sie mehrere Prüfungen in Erster Hilfe ablegen müssen. Sie müßte eigentlich in der Lage sein, einem verletzten Tier zu helfen. Emily riß die Tür auf, blieb wie angewurzelt stehen und stieß einen Schrei aus.
»Sie ist weg!« Sie starrte in den Raum. Bis auf die alte Nähmaschine, den Schaukelstuhl und die abgedeckte Schneiderpuppe, die in einer Ecke stand, war er leer. »Die Katze hat da gelegen, mitten auf dem Boden.«
»Vielleicht hat sie sich in den Garten geschleppt – kranke Tiere tun das manchmal.«
Emily war kreidebleich. »Les, das hätte sie unmöglich geschafft! Sie war voller Blut …«
»Hast du das Tier angefaßt, Emmie? Bist du ganz sicher, daß die Katze schwer verletzt war? Für jemanden, der sich nicht auskennt, kann selbst eine schwache Blutung schlimm aussehen«, erklärte Leslie, doch Emily schüttelte den Kopf.
»Die Katze lag in einer Blutlache. Ich hatte Angst, sie wäre tot, deshalb habe ich nur einen Blick darauf geworfen und bin dann losgelaufen, um dich zu holen. Ich dachte …«, Emilys Stimme bebte, „… du wüßtest, was zu tun ist.«
»Ich sehe kein Blut«, entgegnete Leslie. Wenn das Tier so schwer verletzt war, müßte es zumindest ein paar Spuren hinterlassen haben …
Zitternd kniete Emily in der Mitte des Raums nieder. »Da muß etwas sein, Les! Das Tier war blutüberströmt, es lag in einem ganzen See von Blut …«
Aber der Linoleumboden war sauber und wies keinen einzigen Flecken auf.
»Ich schaue im Garten nach, Em. Wenn die Katze so schlimm verletzt war, kann sie nicht weit gekommen sein.«
»Sie hätte sich nicht einmal rühren können, das schwöre ich, Les. Ich … ich frage mich allmählich, ob ich überhaupt etwas gesehen habe. Aber ich … normalerweise bilde ich mir so etwas nicht ein. Oder? Ich weiß gar nicht mehr richtig, ob da wirklich eine Katze war …«
»Unsinn«, versetzte Leslie schroffer als beabsichtigt. »Ich habe sie doch auch gesehen, gestern nacht in deinem Zimmer. Vier- oder fünfmal ist sie mir schon über den Weg gelaufen. Diese Katze gibt es tatsächlich.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Emily war dermaßen erschüttert, daß sie beim Aufstehen ins Schwanken geriet. »Da war so viel Blut, Les … jedenfalls glaub’ ich es gesehen zu haben. Und vergiß nicht, daß wir die Katze gesehen haben, aber nie berühren konnten. Sie hat sich nicht einmal den Thunfisch geholt. Eine richtige Katze hätte sich das Futter nicht entgehen lassen.«
»Emily, du regst dich völlig unnötig auf«, versetzte Leslie scharf. »Vielleicht mag sie keinen Fisch. Oder ihre Besitzer haben sie abgerichtet, nur aus ihrem eigenen Napf zu fressen.«
»Hunde kann man so weit dressieren, aber ich habe noch nie von einer Katze gehört, die nicht alles frißt, was sie kriegen kann.« Emily suchte die Ziegelwände ab und schaute unter die Rizinusbüsche und Brombeerranken. »Nichts. Les, ich glaube, das war keine echte Katze, sondern ein Geist.«
»Emily, um Himmels willen!« Entnervt stand Leslie auf der Verandatreppe, den Erste-Hilfe-Kasten immer noch unter dem Arm. »Wahrscheinlich hat das Tier sich in den Hof des Nebenhauses geschleppt, um dort zu sterben.«
»Nein. Wirklich, Les. Die Frau, der dieses Haus früher gehört hat … Wie hieß sie noch, Miss Graves?«
»Margrave.«
»Rainbow hat erzählt, diese Miss Margrave hätte eine weiße Katze besessen. Als sie starb, kam diese Freundin der alten Frau, die in demselben Buchladen arbeitet wie Frodo – Claire? –, hierher, um das Tier mit nach Hause zu nehmen. Aber sie konnte es nirgends finden. Und ist dir schon aufgefallen, daß diese Katze niemals einen Laut von sich gibt? Les, glaub mir, sie lag da, in einer riesigen Blutlache! Wenn ein anderes Tier sie angegriffen hätte, ein Hund oder so, hätten wir irgend etwas hören müssen!«
Leslie versuchte sich zu erinnern, ob die Katze jemals auch nur das leiseste Geräusch verursacht hatte. Nein, jedesmal schien sie von einer
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