Die Hüter der Schatten
beinahe übernatürlichen Stille umhüllt zu sein. Selbst als das Tier heute nacht übers Fensterbrett nach draußen geklettert war, hatte es nicht den geringsten Laut erzeugt. Sicher, es war sprichwörtlich, daß Katzen auf leisen Pfoten schlichen, aber zumindest die Krallen hätten auf dem Fenstersims ein Kratzen oder Schaben hervorrufen müssen. Doch Leslie hatte nichts gehört. Sie spürte, wie sich ihr die Haare auf den Armen aufstellten. Eine Frau war bereits verängstigt aus diesem Haus geflüchtet, und eine andere hatte hier Selbstmord begangen.
Alison würde nie zulassen, daß jemand in diesem Haus wohnt, den sie nicht mag. Leslies Verstand sträubte sich gegen diesen Gedanken.
»Ich kann mir vielleicht noch den Geist eines Verstorbenen vorstellen, Emily, aber kein Gespenst in Katzengestalt.«
»Was wissen wir denn wirklich über diese Dinge, Les? Hättest du geglaubt, daß du allein durch deinen Geist ein totes Mädchen finden könntest oder ein kleines Kind, das seinen Geburtstagskuchen in … wo war das noch … in Denver ißt?«
»Phoenix«, antwortete Leslie automatisch. Sie fror am ganzen Körper. Emily ging ins Atelier zurück, schaute sich um und rümpfte die Nase. »Igitt. Schon wieder dieser Gestank …«
»Letztes Mal hast du gesagt, es riecht nach Katzenkot«, erinnerte Leslie sie. »Und ein krankes oder sterbendes Tier hätte sich wahrscheinlich beschmutzt.«
»Aber der Geruch kommt und geht. So wie der Weihrauchduft auf der Treppe. Und die Katze war blutüberströmt. Wäre sie wirklich hier gewesen, hätte sie nicht verschwinden können, ohne einen Blutstropfen zu hinterlassen.«
»Geisterkatzen! Phantomweihrauch!« rief Leslie geringschätzig. »Du solltest für den Enquirer schreiben, Emily.«
»Weißt du noch, wie ich gesagt habe, daß die Erben dieses Hauses versuchen, Interessenten zu vergraulen?« fragte Emily. »Ob wir vielleicht ein echtes Spukhaus gekauft haben?«
Genau das hatte Leslie auch schon überlegt. Sie hatte Simon Anstey im Atelier gesehen, und heute nacht war er Emily in ihrem Schlafzimmer erschienen.
Aber zumindest bei Emily ist es psychologisch bedingt. Der Mann jagt ihr Angst ein – und das ist kein Wunder. Für ein Mädchen ihres Alters ist so ein Vorspieltermin eine furchtbar stressige Sache.
Aber was ist mit mir?
Dann fiel ihr ein, daß Simon das Haus gekannt hatte und offenkundig ein Vertrauter von Miss Margrave gewesen war, ein Musikerkollege. Von Zufällen wie diesen lebten falsche Hellseher.
»Wir sollten uns nicht aufregen und keine übereilten Schlüsse ziehen, Emily. Ich frage in den Nachbarhäusern, ob jemand die Katze gesehen hat, und wenn sie tot oder verletzt ist, rufe ich den Tierschutzverein an und lasse sie wegbringen.«
»Ich wette, du findest sie nicht«, rief Emily und sprang auf, um zu dem klapprigen Pickup zu laufen, mit dem Frodo gerade in der Einfahrt aufgetaucht war.
Kurz darauf saß Leslie allein in der Küche. Als das Telefon klingelte, fuhr sie zusammen. Erst dann fiel ihr ein, daß sie sich in ihrem neuen Haus befand.
»Dr. Barnes.«
Es war ihr Auftragsdienst. »Mrs. Hamilton bittet Sie, wegen ihres Termins zurückzurufen. Und Sie haben eine Nachricht von einem Mr. Beckenham erhalten.«
Einen Moment lang fragte sich Leslie, ob Nick sie aus Sacramento anrief, um sie schon wieder in irgendwelche telepathischen Nachforschungen hineinzuziehen, und ihr wurde flau in der Magengrube. Dann fiel ihr ein, daß sie bei ihrem letzten Treffen mit Joel ihre neue Telefonnummer noch nicht gekannt hatte.
Zuerst rief sie Susan Hamilton an. Das Telefon klingelte fünfmal, und als ihre Patientin abnahm, klang ihre Stimme tränenerstickt.
»Ich weiß noch nicht, ob ich kommen kann, Leslie. Ich muß noch jemanden finden, der auf Chrissy aufpaßt.«
»Ist sie denn nicht in der Schule?«
»Da war sie. Aber ihre Betreuerin hat angerufen, ich mußte sie abholen. Angeblich hat sie ein anderes Mädchen gebissen. Als die Lehrerin versuchte, Chrissy festzuhalten, soll sie die Frau getreten und ihr ein blaues Auge geschlagen haben. In letzter Zeit war sie so brav! Ich hatte schon gehofft …«
Leslie wartete, aber Susan sprach nicht weiter. Sie war in das trostlose Schweigen der Verzweiflung versunken.
»Wie geht es ihr jetzt, Susan?«
»Woher soll ich das wissen? Sie verhält sich ruhig und sitzt einfach da. Das Schlimme ist, daß sie mir nicht sagen kann, was passiert ist. Die Lehrer behaupten, sie hätte das andere Kind ohne Vorwarnung gebissen,
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