Die Hüter der Schatten
Zimmer, um sich Bademantel und Hausschuhe zu holen. »Ich gehe duschen. Gute Nacht, Les, und schlaf gut.«
»Gute Nacht, Liebes.« Leslie begab sich ebenfalls in ihr Schlafzimmer. Kurz darauf hörte sie aus dem Bad, das am Flur lag, die Dusche rauschen. Wie schön, daß sie ihr Badezimmer ganz für sich allein hatte! Ehe Emily das Wasser abdrehte, war Leslie schon eingeschlafen.
Verwirrt setzte Leslie sich im Bett auf. Sie hatte keine Ahnung, was sie geweckt haben mochte. Draußen vor dem Fenster waberte weißer Nebel. Hatte das Telefon geklingelt? Dann vernahm sie Emilys beinahe hysterisches Kreischen von der anderen Seite des Flures. Barfuß rannte sie durch den Korridor. Ihre Schwester saß mit weit aufgerissenen Augen zwischen den Kissen, den Mund immer noch zum Schrei aufgerissen.
»Wie … wie ist er bloß hereingekommen?«
»Wer denn, Emily?«
»Dr. Anstey«, sagte Emily verschüchtert. »Er stand plötzlich dort vor dem Fenster …«
Das Fenster war weit geöffnet. Kalte weiße Schwaden wehten ins Zimmer. Leslie nahm die Hand ihrer Schwester.
»Das hast du geträumt, Em. Niemand da, siehst du?«
Leise stöhnend schüttelte Emily sich. »Es war so real«, wisperte sie. »Das Krachen, mit dem das Fenster aufgeflogen ist, hat mich geweckt. Schau doch, es ist offen! Anstey war genau da drüben, Les. Er hat auf mich heruntergeblickt. Das war er wirklich, Les! Diese Hand … und dieses schreckliche Auge, mit dem er mich anstarrte …«
Wie ein Nebelfetzen glitt die weiße Katze über das Fensterbrett und war verschwunden.
»Das hast du gehört«, erklärte Leslie begütigend. »Die Katze ist wieder ins Haus gekommen.« Sie ging zum Fenster und schloß den Riegel fest.
»Wahrscheinlich«, entgegnete Emily. Aber allzu überzeugt schien sie nicht. »Das Ganze war so … wirklich. Er stand da drüben am Fenster und hat mich angestarrt. Und sein Auge war so … es hat mich irgendwie wütend angefunkelt. Aber es ist dunkel«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Im Finsteren hätte ich ihn eigentlich gar nicht sehen können, stimmt’s? Wahrscheinlich war es bloß ein Alptraum«, schloß Emily ungewöhnlich kleinlaut. In ihrem Flanellpyjama und mit dem offenen Haar sah sie aus wie eine Zehnjährige.
»Du läßt dich von Anstey nervös machen, Schatz. Und dann noch der Streß durch den Vorspieltermin«, tröstete Leslie ihre Schwester. Emily umarmte sie kurz und ließ sich dann überreden, sich wieder hinzulegen. Doch sie konnte den Blick nicht von dem geschlossenen Fenster wenden, hinter dem der Nebel waberte.
»Fühlst du dich jetzt besser?«
»Ja, natürlich, Les. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist. Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe …«
»Macht doch nichts, Liebes. Schlaf gut.« Verwirrt kehrte Leslie in ihr Zimmer zurück.
Emily ist nicht die einzige, der dieser Mann auf die Nerven geht, dachte sie. Dann legte sie sich wieder zu Bett und schlief friedlich bis zum nächsten Morgen durch.
10
Leslie saß am Frühstückstisch, trank Kaffee und knabberte an einem Stück Toast. Im Haus waren noch Hunderte Dinge zu erledigen, aber sie würde erst am Nachmittag dazu kommen. Um halb neun erwartete sie Susan Hamilton, die erste Patientin in der neuen Praxis, und am frühen Nachmittag Eileen Grantson. Emily kam nach unten, verschlang methodisch zwei Stücke Biotoast und einen halben Becher Hüttenkäse und tat ihre Absicht kund, mit der Renovierung des Ateliers beziehungsweise der ehemaligen Garage zu beginnen.
»Ich war so beschäftigt mit dem Vorspielen, daß ich dir die ganze Arbeit überlassen habe«, erklärte sie. »Ich habe mich aufgeführt wie ein egoistisches Miststück. Sobald der Baumarkt öffnet, gehe ich Farbe kaufen und streiche die Wände fröhlich an. Wie wär’s mit Kanariengelb?«
»Hört sich gut an«, meinte Leslie zustimmend. »Ich glaube zwar nicht alles, was über die Heilkraft der Farben erzählt wird, aber es kann bestimmt nicht schaden, wenn der Raum nicht mehr so düster aussieht. Aber wie willst du zehn oder zwölf Liter Farbe nach Hause transportieren? Mit dem Taxi? Außerdem brauchst du Rollen, Farbeimer, Pinsel …«
»Frodo kommt mit seinem alten Lieferwagen und hilft mir. Er sagte, er müßte heute erst um zwei im Buchladen arbeiten, und er streicht gerne an. Er hat mir eine Tabelle geliehen, auf der man ablesen kann, wie viele Liter Farbe man braucht. Deswegen muß ich das Atelier ausmessen.« Emily nahm den letzten Schluck von ihrem Tee, der
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