Die Hüter der Schatten
aber wie kann ich mir da sicher sein? Vielleicht hat die Mitschülerin ihr weh getan, sie geärgert … Wenn ein normales Kind sich in der Schule prügelt, kann man das herausfinden. Aber bei Chris weiß ich halt nie …« Von neuem verstummte Susan. Als sie endlich weitersprach, kämpfte sie wieder mit den Tränen. »Ich bin immer ein gläubiger Mensch gewesen. Aber wie kann Gott so etwas zulassen? Womit habe ich das verdient? Und selbst wenn mir recht geschieht, weil ich eine Sünde begangen habe – zum Beispiel, vor der Hochzeit mit David zu schlafen –, warum sollte Gott seinen Zorn an Chrissy auslassen? Und von meinem Geistlichen höre ich bloß, daß ich nicht an Gottes Ratschluß zweifeln soll.«
Leslie konnte nichts darauf erwidern, und Susan Hamilton erwartete auch keine Antwort. Matt erklärte die Patientin, sie werde anrufen, sobald sie wisse, ob sie den Termin noch einhalten könne.
»Bis Mittag können Sie jederzeit vorbeikommen. Wenn Sie es nicht schaffen, rufen Sie meinen Auftragsdienst an«, sagte Leslie und legte auf. Diese Frau, die unter ihrer furchtbaren Bürde fast zusammenbrach, tat ihr von Herzen leid, doch während ihrer Ausbildung hatte Leslie gelernt, Distanz zu wahren. Aber eigentlich war sie Therapeutin geworden, weil sie Menschen wie Susan helfen wollte. Und was konnte sie jetzt ausrichten, um etwas für die Susan Hamiltons oder Chrissys dieser Welt zu tun? Da hätte sie schon einen direkten Draht zu Gott benötigt. Seufzend wählte sie Joels Büronummer.
»Hallo, Schatz, wie geht’s dir in dem neuen Haus?«
Leslie überlegte, was Joel wohl sagen würde, wenn sie ihm von Geisterkatzen, Phantomweihrauch, Fäkaliengestank im Atelier und einem Musikdozenten erzählte, der als Gespenst in ihrem Haus umging. »Danke, gut«, antwortete sie statt dessen.
»Hör mal, ich habe heute abend einen Gerichtstermin in San Francisco, und auf dem Weg dorthin würde ich gern bei dir vorbeischauen und mir angucken, wie die Räume mit den Möbeln aussehen. Okay?«
»Komm gegen fünf und iß mit uns zu Abend. Du bist unser erster Gast.«
»Einverstanden. Aber nur, wenn Emily nicht kocht«, stimmte Joel gutgelaunt zu. »Von Joghurt und Alfalfa-Sprossen halte ich nämlich nicht viel.«
»Ich brate uns ein Steak«, versprach Leslie.
Die Aussicht auf Joels Besuch munterte sie ein wenig auf, und sie kehrte in ihr Büro zurück. Der Nebel begann sich aufzulösen, und der Blick auf Himmel und Meer erfüllte sie mit einem Gefühl tiefen Friedens. Aus dem Vorderfenster sah sie, daß Frodo mit seinem schrottreifen Wagen zurück war. Emily lud Farben, Pinsel, Leitern und alle möglichen Gerätschaften aus. Leslie rannte nach draußen.
»Hast du das alles gekauft, Emily? Wir wollen doch nicht das ganze Haus renovieren!«
»Kein Problem, Dr. Barnes«, warf Frodo ein. »Die Leiter habe ich mir von meinem Dad geliehen. Bis Mittag ist das Atelier fertig.«
»Wunderbar«, lobte Leslie und eilte davon, weil das Telefon klingelte. Diesmal war Susan Hamilton selbst am Apparat.
»Ich habe jemanden gefunden, der auf Chris aufpaßt. Wenn es Ihnen recht ist, bin ich in einer halben Stunde da.«
»Ja, natürlich.«
Leslie stattete dem Atelier noch einen kurzen Besuch ab. Frodo stand auf der Leiter und trug in breiten, weit ausholenden Zügen blaßgelbe Farbe auf die Decke und den oberen Teil der Wand auf. Emily umklebte die Fenster mit Kreppband und deckte die Scheiben und elektrischen Anschlüsse ab. Leslie ging nicht hinein; die beiden waren tief in ein Gespräch über die Opern von Gluck und Händel versunken.
Würde der Geist – falls dort wirklich einer hauste – dem frischen Anstrich und der Anwesenheit fröhlicher junger Leute widerstehen können? In dem hellen Sonnenlicht, das sich inzwischen gegen den abziehenden Nebel durchsetzte, erschien Leslie schon diese Frage lächerlich. Sie ging ins Haus, um auf Susan Hamilton zu warten.
Susan war eine kleine, gehetzt wirkende Frau. Obwohl sie noch in den Zwanzigern sein mußte, wirkte ihr helles Haar eher ausgebleicht als blond, und sie kleidete sich nachlässig. Wie eine Schlafwandlerin betrat sie das Haus; doch als sie das neue Büro sah, hellte ihre Stimmung sich augenblicklich auf.
»Was für ein wunderschöner, friedlicher Ort! Ich beneide Sie, Dr. Barnes.«
Leslie ließ zu, daß ihre Patientin sich noch ein paar Minuten in Lobeshymnen über die Aussicht und die Einrichtung erging. »Wie geht es Chrissy jetzt?« fragte sie dann.
»Ich habe nicht die
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