Die Hüter der Schatten
leiseste Ahnung.« Susan schüttelte den Kopf. »Ich hab’ ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich sie nach diesem ganzen Aufruhr an der Schule mit dem Babysitter allein gelassen habe. Das arme kleine Ding sah völlig verwirrt aus. Die Schulleitung will unbedingt, daß ich sie im nächsten Jahr anderweitig unterbringe. Die Schule sei einfach nicht darauf eingerichtet, mit einem aggressiven Kind fertigzuwerden. Dabei hat Chrissy so was noch nie getan. Irgendwo tief im Innern ist sie intelligent … ich weiß nur nicht, wie ich sie erreichen soll. Das sagen alle ihre Therapeuten. Chrissy ist nicht schwachsinnig. Aber im Grunde läuft es auf dasselbe hinaus. Jedesmal, wenn ich meine, sie käme endlich gut zurecht, geschieht so etwas wie heute morgen.«
»Dann hat sie Fortschritte gemacht?«
»Ja, das bestätigen alle. Einmal hat sie mich mit ›Hi‹ begrüßt wie jedes andere Kind. Ihre Lehrer berichten, daß sie ab und zu tut, was sie ihr sagen – sie hört dann richtig zu und arbeitet mit, wenn sie auch kein Wort spricht. Und einmal hat sie den langen Weg zum Park ganz allein zurückgelegt. Ich habe sie dann auf einem Spielplatz entdeckt, den wir mal zusammen besucht haben. Sie spielte ganz allein auf der Rutsche. Der Park liegt mehr als anderthalb Kilometer entfernt! Wie hat sie ihn bloß gefunden? Ich war außer mir vor Angst und hatte schon die Polizei nach ihr suchen lassen. Aber trotzdem habe ich eines erkannt: Irgendwo in Chrissy steckt Intelligenz. Wenn ich nur herankäme! Was mache ich bloß falsch?«
»Über Schuldgefühle haben wir ja schon gesprochen, Susan. Was glauben Sie, warum Sie diese Empfindungen hegen?«
»Mein Gewissen plagt mich ständig«, platzte Susan heraus. »Vielleicht habe ich während der Schwangerschaft nicht gut genug auf mich geachtet. Oder der allererste Arzt hatte recht. Er hat gesagt, autistische Kinder würden von ihren Eltern zurückgewiesen. Aber ich habe Chrissy nicht abgelehnt! Niemals! David wollte nichts von ihr wissen, aber erst, nachdem klar wurde, daß mit ihr etwas nicht stimmte, nicht vorher!«
»Niemand hat jemals mit Sicherheit feststellen können, ob Chrissy autistisch ist«, erinnerte Leslie ihre Patientin. »Sie ist ein sehr zärtliches Kind, was eigentlich gegen diese These spricht. Ein autistisches Kind ignoriert seine Eltern. Und Sie sagen, Chrissy hätte ihrem Vater nachgeweint, als er ausgezogen ist. Außerdem ist ›emotionale Vernachlässigung‹ nur eine Hypothese von vielen, was die Ursache autistischen Verhaltens angeht, und sie ist nie bewiesen worden. Sie haben Ihre Tochter jedenfalls nie hintangestellt, obwohl Sie dadurch Ihre Ehe hätten retten können.«
Das alles hatten sie mehr als einmal durchgekaut. Susan versuchte, das Labyrinth aus Schuldgefühlen und Unglück, in dem sie steckte, zu entwirren. Ihr Mann hatte zuerst sich selbst die Schuld gegeben, dann ihr. Das Paar hatte versucht, entfernte Verwandte aufzuspüren, die vielleicht unter ähnlichen Symptomen litten. Selbst die Beteuerungen der Ärzte, das Kind sei möglicherweise bei der Geburt zu Schaden gekommen, hatten ihnen nichts genützt.
Und ich kann für keinen von ihnen etwas tun, dachte Leslie. Ich weiß nicht einmal, was ich dazu sagen soll.
»Wissen Sie, Leslie …« Mitten in ihrem Wortschwall unterbrach sich Susan. »Ich möchte Ihre Meinung als Mensch hören, nicht als Therapeutin. Von Berufs wegen müssen Sie ja sagen, daß ich mich von meinen Schuldgefühlen befreien soll …«
»Was mit Sicherheit besser wäre«, sagte Leslie. »Oder glauben Sie etwa, Sie würden Christinas Leid zu sehr auf die leichte Schulter nehmen, wenn Sie Ihr schlechtes Gewissen ablegen? Daß Sie Ihr Kind dann nicht genug lieben würden?«
»Das ist ein Teil der Erklärung«, erwiderte Susan bedächtig. »Aber ich habe noch einmal darüber nachgedacht, was ich Ihnen am Telefon sagte. Warum ausgerechnet ich? Ich bin ein religiöser Mensch. Ich kann einfach nicht glauben, daß das Leben ein heilloses Durcheinander ist und daß nichts einen Sinn hat. Würde ich an diese Art von blindwütigem Chaos glauben, wäre ich wahrscheinlich längst mit Chrissy in den Armen von der Golden Gate Bridge gesprungen. Sehr viele Menschen hätten es leichter, wenn wir beide nicht mehr da wären.«
»Haben Sie ernsthaft darüber nachgedacht?« fragte Leslie. Während ihrer Ausbildung hatte man sie gelehrt, niemals die allererste, auch beiläufige Erwähnung von Selbstmordgedanken zu ignorieren. Und Susan steckte in
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