Die Hueterin der Geheimnisse
ihres Lebens wurde nicht von Zeit oder Umständen infrage gestellt; ihre Seele war so sicher wie Stein.
Die Töne der Steine standen anders als Flax’ Gesang nicht im Widerspruch zu seiner geistigen Musik, sie erklangen vielmehr im Einklang mit dieser und verliehen ihr mehr Tiefe und Farbe. Er sehnte sich danach, sie auszuprobieren. Flax saß neben ihm und nippte voller Freude an einem Rest Ale. Er besaß die Gabe, glückselig zu sein, während er gar nichts tat, eine Gabe, die Ash nicht eigen war.
»Ich glaube, ich sollte üben, bevor ich es bei einem zahlenden
Kunden probiere«, sagte Ash, so unbefangen er konnte. »Willst du, dass ich für dich deute?«
Flax lächelte vor Vergnügen. »O ja.« Er drehte sich um, sodass er Ash zugewandt war, spuckte sich dann in die linke Hand und reichte sie Ash erwartungsvoll.
Ash legte den Beutel vor sich auf den Boden, breitete sein Mundtuch aus und spuckte sich ebenfalls in die Hand. Ihre Hände umklammerten sich.
»Stell deine Frage«, sagte er.
»Äh … wird Zel je heiraten?«
Ash ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, denn auch das gehörte zum Beruf eines Steinedeuters, sich eine ausdruckslose Miene zu bewahren. Doch er war plötzlich neugierig, ob Flax sich in Bezug auf diese Frage als Antwort ein Ja oder ein Nein wünschte. Hing er so sehr an Zel, dass er den Gedanken, sie würde ihn verlassen, nicht ertragen konnte? Oder ärgerte er sich über die altkluge Führung durch seine große Schwester?
Die Steine in dem Beutel fühlten sich in seinen Fingern seltsam und doch vertraut an. Es war jetzt ein anderes Gefühl, sie zu berühren, als vorhin. Einige glitten anscheinend an seinen Fingerspitzen vorbei, als wären sie gewachst, andere klammerten sich an seine Hand. Es war einfach, die fünf zu ergreifen, die herausgezogen werden wollten, das Werk eines einzigen Moments. Ash holte tief Luft, um seine Überraschung im Zaum zu halten. Er hatte immer geglaubt, welche Steine gewählt wurden, sei bloß ein Zufall - nun ja, ein von den Göttern beherrschter Zufall. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass die Steine sich selbst auswählten. Die Wahl war so eindeutig . Es war so einfach zu entscheiden, welche man packen und welche man gehen lassen musste. Er spürte, wie er in Hochstimmung geriet. Da war nun also doch etwas, das er konnte, etwas, das weit mehr respektiert wurde, als
eine Schutzwache zu sein, etwas, das … das ihn wieder zurück auf die Wanderschaft führen konnte. Mit seinen Eltern, wenn sie denn wollten.
Eine viel versprechende Zukunft breitete sich in diesem Moment vor seinem inneren Auge aus, während seine Hand die fünf Steine aus dem Beutel hervorholte und auf das Tuch aus ungefärbtem Leinen warf. Die Steine hoben sich deutlich von dem bleichen Stoff ab, doch Ash benötigte das verblassende Licht gar nicht, um zu wissen, welche Steine vor ihm lagen. Es schien einfach.
Als dann die Steine zu ihm sprachen, hörte es auf, einfach zu sein. Er berührte sie, einen nach dem anderen, wie er es bei Martine gesehen hatte, und sie drangen in seinen Geist und sprachen, in Geräuschen und Musik, in Bildern und Gerüchen. Dem Geruch von Blut. Dem Flug eines Pfeils. Dem Rauschen des Meers.
»Zeit«, sagte er mit Mühe und war sofort entsetzt vom Klang seiner Stimme. Die Worte kamen ihm rau über die Lippen, krächzend, es war die unverkennbare Stimme der Toten.
Flax schreckte zurück, wurde blass und ließ Ashs Hand los. Dann fasste er sie langsam wieder an und ignorierte die Tatsache, dass Ash zitterte.
»Das ist die Stimme der Quelle der Geheimnisse«, sagte er langsam. »So heilt sie. Mit dieser Stimme.«
Ash schaute auf seine Hände hinab, unsicher, was er sagen sollte. Er wollte nicht wahrhaben, dass er mit der Stimme der Toten sprach. Er zuckte mit den Schultern und versuchte damit auszudrücken, als sei es auch für ihn eine Überraschung. Aber Flax hatte es bereits erkannt.
»Du hast gar nicht versucht, diese Stimme zu benutzen?«, fragte er vorsichtig.
Ash schüttelte den Kopf. Er hatte Angst davor zu sprechen,
Angst, o Götter, dass seine normale Stimme für immer verschwunden war.
»Ist das schon einmal vorgekommen?«
»Nur wenn ich singe.« Das Eingeständnis platzte aus ihm heraus, bevor er es verhindern konnte, und es war seine eigene Stimme, wenn auch ein wenig höher als normal, da er Angst hatte. Aber es war seine Stimme. Sich wieder den Steinen zuzuwenden, die auf dem Tuch lagen, gehörte jetzt zu dem Schwersten, was er je getan
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