Die Hueterin der Geheimnisse
sich, ohne darüber nachzudenken, ins Feuer gestürzt.
Zel trat einen Schritt vor. Er streckte die Hand nach ihr aus. Er verkörperte Intensität, Ekstase, Freiheit, alles, was die
Erotik einer heranwachsenden Frau verhieß, was aber nie in Erfüllung ging.
Zel machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, ohne den Blick von ihm zu lassen.
Martine war innerlich zerrissen. Sollte sie Zel aufhalten? Hatte sie das Recht dazu? War es ihre Entscheidung oder Zels? Oder seine? Sie war ratlos. Dann fand sie ihre Sprache wieder.
»Wir sind Töchter des Feuers«, sagte sie zu ihm. »Wirst du deine Tochter vernichten?«
Er wandte sich ihr zu und starrte sie an. Dann lächelte er, und sie sah den Tod in Gestalt prächtig züngelnder Flammen in seinen Augen.
Sie war wie gelähmt und sehnte sich danach, auch ausgewählt zu werden. Die Erregung der vergangenen beiden Nächte hatte sie wieder erfasst, wilder jetzt, stärker, beharrlicher, kaum dass er sie angeschaut hatte. Sie fühlte sich so schmerzlich von ihm angezogen, dass sie das Gefühl hatte, zerrissen zu werden. Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Aber er wollte sie nicht. Er schaute wieder zu Zel, zu der Jüngeren.
Doch es war zu spät. Zel hatte ihren Blick bereits niedergeschlagen.
»Hazel?«, sagte das Feuer mit einer Stimme, die wie brausender Wind klang, machtvoll prasselte und abgrundtiefes Verlangen ausdrückte. Martine war neiderfüllt, wollte ihn, oh, wollte, dass er sie so anschaute und dabei ihren Namen aussprach.
Aber Zels Mund war wie versteinert. »Ich muss mich um Flax kümmern«, antwortete sie.
Das genügte ihm. Nie würde er bitten, nie betteln. Er lud ein. Oder er nahm. Martine packte Zel und zog sie weiter zurück. Weiter weg auf die Wand aus Wasser zu. Lieber ertrinken
als verbrennen, denn jetzt würde er sie beide mit seiner Glut verzehren. Plötzlich wurde die Hitze unerträglich, wo sie zuvor zärtlich gewesen war, und ihre Haut glühte. Er züngelte nach ihnen, und die Flammen griffen vom Altar aus über.
Als habe Zels Zurückweisung des Feuergottes dem Wasser Kraft verliehen, stieg es nun höher und wölbte sich dabei an seiner Oberkante, sodass der Altar fast von einer Kuppel aus Wellen, einem widernatürlichen Strudel eingeschlossen war. Die Luft entwich zischend durch die kleine Öffnung im Zenit. Martine geriet ins Taumeln, als der Sog entstand und ihnen die Sicht raubte, ihnen den Atem nahm, sie auf ihn zuzerrte. Von oben brachen Wellen über die Insel herein, Wasserspritzer klatschten auf den Sockel des Altars und durchnässten sie. Jeder Tropfen brannte wie Säure, doch das Feuer war so heiß, dass ihre Kleider fast sofort wieder trockneten.
Martine zwang sich dazu, dem Feuer den Rücken zuzuwenden und sich Richtung Wasserwand und gegen den Sog des Feuers zu bewegen. Dabei versengte ihr die Hitze den Rücken. Sie und Zel klammerten sich aneinander, kauerten sich ganz nah am Rand des Wassers zusammen. Zel hatte ihren Kopf in Martines Arm gebettet und verbarg ihren Blick vor ihm, als traue sie ihrem eigenen Entschluss nicht. Sie zitterte am ganzen Körper.
Die Flammen verloren an Kraft. Er konnte zwar ohne Zunder leben, nicht jedoch ohne Luft. Er würde sich doch wohl nicht löschen lassen? Martine drehte sich um und schaute ihn an.
Wie als Antwort auf ihren Gedanken starrte er Martine durchdringend an, und dann erhob sich das Feuer zu einer einzigen großen Säule aus reinen Flammen. Es gab keine Spur mehr von ihm, und das Feuer entwich durch die schmale Öffnung in der Mitte der Kuppel. Es dampfte und
zischte. Das Wasser geriet ins Stocken, als der Strudel sich verlangsamte. Tröpfchen fielen herab und gingen als Sprühregen auf den Altar nieder. Die Feuersäule erhob sich vom Altar und schoss direkt durch die Öffnung hinauf, erhob sich unfassbar schnell in den Nachthimmel, bis sie zu einem Stern wurde und schließlich nicht mehr zu sehen war.
Einen Moment ragten die Wellen noch über ihnen auf, und Martine fragte sich, ob sie ihnen einen Dank aussprechen mussten, um Wiedergutmachung zu leisten für die Probleme, die sie beide verursacht hatten. Aber sie war nicht gewillt, sich bei dem Wasser zu entschuldigen.
»Wir sind Töchter des Feuers«, sagte sie mit deutlicher Stimme. »Was getan wurde, wurde mit Respekt und Verehrung getan.«
Der Wirbel des Wassers wurde langsamer, und die Wasserwand sank allmählich wieder zurück in den See. Während das Wasser sich beruhigte, blieben Zel und Martine, wo sie waren, und kamen dem
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