Die Hueterin der Geheimnisse
ihr Enkelkinder geschenkt, wenn er auch nur den geringsten Familiensinn aufbrächte. Vielleicht hatte sie Recht. Er hatte als Thegans Offizier intensiv gearbeitet, aber er hatte auch intensiv gelebt. Er lächelte bei der Erinnerung an die vielen Jagdrennen, die Mädchen, die Jagd. Gut, dass ich nicht ehrgeizig bin, dachte er säuerlich. Das Letzte, was Thegan will, ist ein Offizier, der sich wirklich danach sehnt, das Kommando zu übernehmen.
Ash
Das Tageslicht in der Tiefe war dem Schlafen und Singen vorbehalten. Die anderen Männer, nun wieder mit ihren menschlichen Gesichtern, zogen davon, um sich auf ihren Decken zusammenzurollen. Ein älterer Mann hatte sich sogar eine Matratze mitgebracht. Ashs Vater schüttelte den Kopf und lachte.
»Plum meint, er sei langsam zu alt, um auf dem harten Boden zu schlafen. Ich weiß, wie er sich fühlt.« Er betrachtete Ash mit unverhüllter Freude und legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Es ist sehr schön, dich zu sehen. Du siehst gut aus. Hast ganz schön zugelegt, was?«
Das war eine Frage. Ash lächelte. Im Lauf der vergangenen zwei Jahre hatte er mit Sicherheit zugenommen. Ein wenig größer als sein Vater war er schon seit ein paar Jahren, nun aber war er auch kräftiger. Stärker.
»Ja, mir geht es gut.«
»Was ist bei Doronit geschehen?«
Ashs Miene verschloss sich. Er spürte es, spürte, wie sich die Muskeln anspannten, wie er die Zähne zusammenbiss. »Ich bin von Doronit weg. Es war notwendig.«
Sein Vater schaute ihn scharf an, entschloss sich dann aber zu Ashs Überraschung, das Thema zu wechseln. Er wandte sich Flax zu.
»Willkommen in der Tiefe, Junge. Flex ist dein Name, ja?«
Ash unterdrückte ein Lachen. »Flax«, korrigierte er ihn.
Rowan kicherte leise. »Dachse haben ein scharfes Gehör, aber sie verstehen die menschliche Sprache nicht ganz so gut«, erklärte er. Flax machte Stielaugen, war offensichtlich erstaunt darüber, dass der Mann so beiläufig auf seine Verwandlung anspielte.
»Oh. Äh …«
Rowan erbarmte sich seiner. »Du bist Sänger?«
Flax nickte.
»Also dann, gib uns mal etwas zum Besten.«
Das war der Augenblick, vor dem Ash sich gefürchtet hatte. Er trat einen Schritt zurück, um einen freien Blick sowohl auf Flax’ Gesicht als auch auf das seines Vaters zu haben. Flax räusperte sich nervös und überlegte zweifellos, was mit ihm geschehen würde, falls er schlecht sang. Dann holte er tief Luft und stieß einen einzelnen, klaren Ton hervor. Es war der Beginn des beliebtesten Liebeslieds, das jemals verfasst worden war, Die fernen Hügel .
Von den hohen Hügeln von Hawksted ruft meine Liebste mich,
Ein Hauch liegt in ihrer Stimme, der Wind wird zu ihrem Atem.
Von den hohen Hügeln von Hawksted, über der besiedelten Ebene,
Singt meine Liebste so süß, singt das Lied des Todes.
Das Lied handelte von einem Liebespaar, das getrennt worden war. Aus den Worten wurde nicht deutlich, ob die Geliebte weit weg oder schon tot war, und die Sänger deuteten es mitunter anders. Das Lied hätte sentimental sein können, aber die Musik war sparsam und getragen und zählte zu den kulturellen Schätzen der Domänen. In der Tiefe
- wo sie über viele Lieder sprachen - rätselten die Männer darüber, wer es wohl geschrieben hatte. Niemand wusste, wo Hawksted lag. Das Lied wurde in keiner ihrer vielfältigen Traditionen erwähnt, doch die benutzte Tonlage und die Melodie bewiesen, dass es sehr alt und wahrscheinlich von jemandem des alten Bluts verfasst worden war.
Flax’ Stimme, ohnehin wunderschön, hallte von den hohen Wänden der Tiefe wider und klang dadurch noch voller. Sie nahm eine Resonanz und Tiefe an, die Ash einen Schauer über den Rücken laufen ließen, behielt aber ihre eindringliche Klarheit auch bei den hohen Noten bei. Rowans Miene war unergründlich, doch die anderen Männer scharten sich langsam und leise, um den Sänger nicht zu stören, um ihn. Nach der Hälfte des Lieds kam traditionellerweise ein Flötensolo. Rowan angelte seine kleinste Flöte, ein Instrument aus Weidenholz, aus seiner Tasche hervor und hielt sich bereit; ohne Bruch nahm er dann die Melodie von Flax auf, und als dieser mit dem letzten Vers einsetzte, spielte Rowan leise weiter, sodass die Flöte und die Stimme sich umschlangen wie die Stimme des Liebenden und der Wind.
Als sie endeten, hatten alle Männer feuchte Augen. Sogar Ash, auch wenn er nicht wusste, ob er wegen des Lieds weinte oder wegen des Ausdrucks auf dem Gesicht seines
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