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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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der Stirn hat, muss man nach unten schauen, dann wirkt die Finsternis nicht so bedrückend. Aber es ist ein langer, langer Weg bis zum Ende der Rampe. Bis ans Sonnenlicht. Vor dem Mittagessen sind noch vier Fuhren zu erledigen.
    Na ja, es heißt ja, dass man sich an alles gewöhnt. Sogar an endloses Arbeiten, Essen, Schlafen und wieder Arbeiten. Nicht jeden Tag wird geschoben. Die Grube ist bei der Mondfinsternis für zwei Tage geschlossen, und die freien Hauer gehen dann zu ihren Familien ins Tal, jedenfalls die, die eine haben.
    »Es wäre ein großes Unglück, bei Mondfinsternis unter Tage zu sein«, erklärt mir Nav. »Dann kommen nämlich die Höhlenwesen raus.«
    »Höhlenwesen?«
    Nav schaut rasch über seine Schulter und macht das Zeichen gegen Zauber. »Die finsteren Höhlenbewohner, die kleinen, die Steinefresser, die Eigentümer der Finsternis«, sagt er, und es wird deutlich, dass es nicht seine Worte sind,
sondern dass er sie übernommen hat. Aber von wem, das sagt er nicht.
    Selbst wenn die Grube geschlossen hat, hören die Schieber nicht auf zu arbeiten. Zu tun gibt es immer etwas; das Gras um die Baracken absensen, Holz hacken, den Gemüsegarten jäten. Das ist gar nicht so übel, wenn einem die Sonne den Rücken wärmt und der Geruch von frischer und lebendiger Erde einem in die Nase steigt. Das ist etwas anderes als der dunkle, tote Geruch von Fels unter Tage.
    An diesen beiden Tagen ist Fursey immer unruhig wie eine Katze. Jeden schnauzt er an. Sein starrer Blick mit weit aufgerissenen Augen wandelt sich zu einem feindseligen.
    »Er hasst es einfach, nicht in der Grube zu sein«, sagt Nav. »Ich sagte es dir doch, der ist verrückt.«
    Es stimmt. Als er wieder in der Grube ist, singt Fursey beim Schieben und hält sich jetzt doppelt so lange damit auf, das Gold zu betrachten.

    An jenem Abend, im Bett, spricht er darüber mit flüsternder Stimme. »Ich weiß, dass es von den anderen keiner versteht, aber du schon, nicht wahr, Medric? Es ist so wunderschön da unten, wenn überall um mich herum das Gold schimmert. Das Gold ruft mich, ich kann es hören, ich weiß, wo es unter den Felsen verborgen liegt. Es will herausgeholt, geschmolzen und zu wunderschönen Dingen geformt werden. Es will bewundert und gesammelt werden. Es sehnt den Schmerz herbei, wenn die Hacke in die Ader eindringt.«
    Seine Hand ist warm. Er ist das einzig Warme hier.
    »So richtig verstehe ich das nicht. Aber wahrscheinlich …«
    »Du wirst schon sehen«, sagt er zuversichtlich. »Bald wirst du es auch lieben.« Er schmiegt sich näher an mich. Sein Haar riecht nach Staub und Leder.

    Nach einer Weile werden aus Schiebern Hauer. Hauen ist besser. Man schlägt fest gegen die Felswand und wählt seine Stelle dabei so aus, dass mit nur einem Schlag eine ganze Platte abfällt. Hauen erfordert Geschick und ist verantwortungsvoll. Man kann leicht einen Fehler machen, und dann stürzt ein ganzer Wandabschnitt auf die Kumpel.
    Auf diese Weise kommt Nav ums Leben, als ein neuer Hauer einen Teil einer tragenden Wand abschlägt und der Tunnel einstürzt. Die Grube schließt für einen Tag. Die freien Hauer gehen ins Tal hinunter, um am Felsaltar der Götter für Nav zu beten, und dieses eine Mal wird es auch den gekauften Hauern und Schiebern gestattet, sie unter Samis wachsamen Augen zu begleiten.
    »Warum gibt es kein anständiges Begräbnis? Wieso graben sie ihn nicht aus?«
    »Die Höhlenwesen werden sich seine Leiche schon genommen haben«, sagt Fursey sachlich.
    Er hat Recht. Das Schlimmste erwartend, ist es am nächsten Tag schwer, hinunter in die Finsternis zu gehen. Aber Navs Leiche ist weg und die Tunnelsohle zum Teil geräumt.
    »Kein Mensch weiß, wohin die Leichen verschwinden, aber es kann nichts Schlimmes mit ihnen geschehen sein. Sie fressen bloß Stein«, sagte Fursey. »Ich glaube, Gold ist so etwas wie Nachspeise für sie.« Er legt eine Pause ein. »Eines Tages würde ich ihnen gerne einmal begegnen.«
    »Sag so etwas nicht! Du könntest ihnen so begegnen, wie Nav ihnen begegnet ist.«
    Er lächelt. Im blassen Licht seiner Kerzen kann man keine Iris in seinen Augen erkennen; sie sind absolut schwarz, so dunkel wie die Grube. Das Flackern der Kerze lässt das Weiße in seinen Augen golden glänzen. Manchmal ist dies sogar im Tageslicht so.
    »Es gibt schlimmere Orte zum Sterben.«

    Ohne Nav ist das Bett größer, aber auch kälter. Zuhause wirkte die Nacht dunkel. Aber nach der bedrückenden Dunkelheit der Grube ist

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