Die Hueterin der Geheimnisse
Papa?«, fragte er einen der Männer. Es war Elric Elricsson, ein paar Jahre älter - und mit nur einem Arm. Der rechte Ärmel seiner Jacke hing ihm leer herunter. Also hatte Ruhm tatsächlich einen hohen Preis, dachte Bramble. Ob er bekommen hat, was er wollte?
»Neunzig Punkte«, sagte Elric lächelnd. »Gut gemacht, Junge.«
»Das ist um fünfzehn mehr als jeder andere«, stimmte ein anderer älterer Mann zu. Alle anderen Männer waren ergraut oder wurden kahl. Nur alte Männer. Wo waren die jungen?
Einer der alten Männer wandte sich Acton zu. »Pass lieber auf dich auf, Junghahn, sonst haut er dich von deiner Stange.«
Acton lachte von Herzen, aber nicht aus Spott. Es war schlichte Begeisterung, das erkannte Bramble. Er war gut gelaunt, voller Leben, und alle schienen sich ihm zuzuwenden, stellten sich so, dass sie ihn sehen konnten. Ein anderer Junge fing eine Rauferei an und schaute dabei aus den Augenwinkeln danach, ob Acton ihm zusah. Er spielte sich vor ihm auf. Acton bemerkte es nicht.
»Baluch könnte besser sein als ich, glaube ich«, sagte er. »Er denkt schneller als ich. Er muss bloß mehr üben.«
Elric nickte. »Das sage ich ihm auch ständig.« Er gab Baluch einen Klaps auf den Hinterkopf. »Übung. Das ist das Geheimnis. Aber er ist ja immer unterwegs mit seiner Harfe und seiner Trommel.«
Seine Stimme klang leicht vorwurfsvoll, jedoch auch voller Stolz. Bramble kannte diesen Tonfall. Ihre Mutter hatte
ihn immer benutzt, wenn sie über die Lebensmittel sprach, die Bramble aus dem Wald mitbrachte.
Acton ließ Baluchs Schultern los und schlug ihm auf den Rücken.
»Er dichtet die besten Lieder«, sagte er bewundernd. Elric lachte.
»Mag sein, mag sein. Aber Lieder sind für die Zeiten nach der Schlacht bestimmt, und man lebt nicht lange genug, um diese Lieder noch hören zu können, wenn man nicht …«
»Wenn man nicht mehr übt. Ja, Papa«, sagte Baluch mit Humor und resignierend.
Es fühlte sich nach wie vor äußerst merkwürdig für Bramble an, dass jemand anders ihren Mund und ihre Zunge benutzte, zu spüren, wie sich ihr Körper ohne ihren Willen bewegte und sprach. Doch allmählich gewöhnte sie sich daran, beobachtete nur distanziert die Gefühlsregungen, damit sie Acton und seine jeweilige Umgebung besser verstehen konnte.
Die Gruppe der Jungen löste sich auf, wodurch es Bramble ermöglicht wurde, in Richtung des Pferdehofes und des dahinter liegenden Landes zu schauen. Trotz des sommergoldenen Grases, das die Landschaft bedeckte, wirkte es karg auf sie. Abgesehen von ein paar Birken auf der vom Wind abgelegenen Seite von Bodensenken und kleinen Höhenrücken, war es bar jeder Bäume. Aus welcher Richtung der Wind hier die meiste Zeit wehte, war leicht zu erkennen - immer aus Richtung der schneebedeckten Berge, und das ließ die Bäume verkümmern. Sie waren derart gebeugt, dass ihre oberen Äste fast den Boden berührten. Die Berge umgaben sie und bildeten eine Barriere für die Wolken. Der Schnee glänzte im Sonnenuntergang orangefarben und rosarot. Solche Berge hatte Bramble noch nie gesehen, im Vergleich dazu waren die Gipfel in der Nähe des Golden Valley
nur Gebirgsausläufer. Sie hätte sich gewünscht, dass Baluch stehen geblieben wäre und sie angeschaut hätte, doch er drehte sich um und folgte Acton und den anderen zu einem langen Gebäude, vermutlich der Halle, in der sie zuvor gewesen war.
Hinter dieser befanden sich Nebengebäude, Ställe und Kuhställe, Häuser sowie eingezäunte Wiesen für Tiere. Als sie ihre Sinne weiter in Einklang mit Baluchs brachte, konnte Bramble die Tiere riechen: Pferde, Schweine und der Geruch der feuchten Wolle von Schafen. In der Ferne hörte sie Kühe, sah Tierhäute, die auf Trockenrahmen gespannt worden waren. Die Rahmen waren aus Knochen, die man mit Lederriemen aneinandergebunden hatte, hergestellt worden. Nutzholz war also knapp. Wertvoll. Als Baluchs Blick über das immer mehr im Dunkeln versinkende Grasland schweifte, sehnte sich Bramble nach den Bäumen ihrer Heimat.
Baluch zog eine kleine Holzflöte aus seinem Gürtel und hielt sie sich während des Gehens an die Lippen. Er spielte eine schnelle trällernde Melodie, die jeden dazu veranlasste, sein Tempo zu erhöhen, so lange, bis sie alle mit schnellen Schritten gingen. Bramble wünschte sich, selbst auch so musizieren zu können. Sie spürte seine Freude über die Wirkung, die seine Melodie hervorrief. Plötzlich blieb Acton stehen und schaute Baluch von der Seite an.
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