Die Hueterin der Geheimnisse
an. Seltsamerweise fühlte es sich so an, als starre es in Brambles Augen, könne diese jedoch nicht wahrnehmen.
»Asa«, erwiderte er. Bramble wurde speiübel. Es war furchtbar zu spüren, wie sich der Mund bewegte und Worte aus ihm quollen, ohne dass man die Kontrolle darüber hatte. Ihr fiel der Wandererjunge in dem Gasthaus in Sandalwood ein, der von einem Dämon heimgesucht worden war. War es für ihn auch so gewesen? Sie versuchte, sich von dem Körper des Mannes zurückzuziehen, damit ihr seine Reaktion auf das, was er sah, weniger bewusst würde. Es gelang ihr zum Teil. Das Gefühl von rauem Stoff, an seinen Rücken gepresst, nahm ab. Das Gespür für seine Genitalien verblasste ein wenig. Zumindest fühlte er sich von der Frau nicht angezogen. Kaum dass sie eingetreten war, hatte sich sein Herzschlag verlangsamt, und ihre Schönheit machte keinerlei Eindruck auf ihn. Asa, dachte Bramble. Das war der Name von Actons Mutter. Sie durchlebte die Vergangenheit.
Zum ersten Mal stellte sie sich die Frage, ob sie die Geschichte ändern könnte. Wenn Acton jetzt starb, würden die Domänen niemals überfallen werden. Die Ureinwohner wären in Sicherheit. Vielleicht würde stattdessen Actons Volk
sterben, dachte sie. Sie sind beide mein Volk. Bei dieser Vorstellung erhöhte sich der Druck der Götter, als stimmten sie ihr zu. Sie entspannte sich. Ich werde nichts verändern, versprach sie. Ich werde nur zuschauen und in Erfahrung bringen, was wir wissen müssen. Sofort verringerte sich der Druck weiter, verschwand aber nicht.
Bramble konzentrierte sich auf das, was Gris und Asa sagten.
Sie unterhielten sich in einer Sprache, die Bramble nicht verstehen konnte. Einige der Worte klangen irgendwie vertraut, wurden jedoch merkwürdig betont. Der Druck der Götter in ihrem Kopf nahm zu und ließ die Stimmen verschwommen und hallend klingen. Dann kamen sie wieder ins Gleichgewicht, und Bramble konnte verstehen, was gesagt wurde. Die Götter hatten sie die alte Sprache gelehrt, als wäre es die ihre.
»Es ist alles bereit«, sagte Gris. »Es ist genug Essen da, bis du nach Hause kommst. Hast du die Sachen?«
Asa holte Kleider und Windeln unter ihrem Tuchumhang hervor.
»Werden sie es glauben?«, fragte sie mit Nachdruck.
Er nickte. »Die Klippe ist ein uralter heiliger Platz. Wenn sie deine Sachen und die Windeln dort finden, werden sie annehmen, dass du dich als Opfer angeboten hast und gesprungen bist.«
»Nackt?«, sagte sie zweifelnd.
Gris lächelte. Bramble merkte, wie sich seine Gesichtsmuskeln bewegten, aber welche Art Lächeln es war, vermochte sie nicht zu sagen. Glücklich fühlte es sich nicht an.
»So werden Opfer dargebracht. Sie werden es nicht infrage stellen, wenn ich ihnen erst einmal von unserer Unterhaltung berichtet habe. Dass du es nicht mehr ertragen
konntest, noch länger mit Hard-hand zu leben. Dass das Baby dich zu sehr an ihn erinnert hat. Und dass ich dir vorgeschlagen habe, dich als Wiedergutmachung für den Mord an ihm den Göttern zu opfern.«
Sie wirkte unsicher. »Sorg dafür, dass sie dir nicht die Schuld an allem geben.«
Er presste die Lippen zusammen, und seine Wangenknochen traten hervor. »Das werde ich«, sagte er. Bramble hörte die Entschlossenheit seiner Stimme. Asa ebenfalls. Sie nickte und schaute dann auf das eingehüllte Baby. Sie schob das Tuch von seinem Gesicht, und Bramble sah, dass der Kleine das goldene Haar seiner Mutter geerbt hatte. Er war nicht alt, nicht älter als einen Monat, vielleicht jünger noch. Gris strich mit dem Fingerrücken sanft über die Wangen des Babys.
»Pass auf Acton auf«, sagte er. »Er ist mein Erbe.«
Jetzt lächelte sie, ein süßes Lächeln, und nickte. Bramble versuchte, einen besseren Blick auf das Gesicht des Babys zu erhaschen, doch Gris schaute Asa an.
»Ich sehe dich dann irgendwann«, sagte Asa und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Bramble spürte, dass er errötete, aber in seinen Lenden geschah nichts. Er hob Asa in den Sattel und hielt ihr die Tür auf. Sie ritt mit dem Baby in eine windige, wolkenlose Nacht hinaus, und nun stieg Wasser auf und umschloss Bramble, genau so, wie es beim Altar auch der Fall gewesen war. Dieses Mal kämpfte sie nicht dagegen an, doch das unangenehme Gefühl, überwältigt zu werden und zu sterben, war so stark wie beim ersten Mal auch und zog ihr den Magen zusammen. Ich lasse mir leicht Angst einjagen, dachte sie, obwohl ich mich den Göttern ergeben habe und ihnen trauen muss. Trotzdem
Weitere Kostenlose Bücher