Die Hueterin der Krone
rückende Küste, das Land ihrer Geburt, ohne auf den beißenden, salzigen Wind zu achten, der ihr ins Gesicht peitschte. Vor acht Jahren war sie zuletzt hier gewesen. Damals hatte ihr Vater noch gelebt, und seine Männer hatten vor ihr gekniet und geschworen, sie als zukünftige Königin Englands anzuerkennen. Jetzt kam sie, um ihnen ihre Krone zu entreißen.
Sie drehte sich um, als sich ihr Bruder Robert zu ihr gesellte.
»In Kürze werden sie Warnfeuer anzünden, dann weiß Stephen, dass ich hier bin«, sagte sie.
»Für ihn ist es schon zu spät.« Robert lächelte zuversichtlich. »Er kann nichts mehr tun.«
Matilda presste die Lippen zusammen. Leichte Übelkeit stieg in ihr auf. Sie redete sich ein, dass es ein Anflug von Seekrankheit war, aber in Wahrheit wurde sie in einen tiefen Strudel des Zweifels gezogen. Wenn Stephen sich nun ganz in der Nähe aufhielt und ihr auflauerte? Er verfügte ebenso wie sie über ein weit verzweigtes Netz von Spionen. Was, wenn es Adeliza nicht gelungen war, ihren Mann dazu zu bewegen, ihnen die Tore von Arundel zu öffnen? Wenn William D’Albini ihnen nun verbot, die Truppen, Pferde und Ausrüstungsgegenstände an Land zu schaffen, die sie aus der Normandie mitgebracht hatten?
Der Arun wand und schlängelte sich landeinwärts wie eines von Adelizas silbernen Haarbändern. Obwohl der Herbst ins Land zog, leuchtete das Gras noch sattgrün, und auf den Feldern weideten Schafe. Unter anderen Umständen hätte Matilda die Reise genossen, aber im Moment war sie zu angespannt und ungeduldig.
Als sie am Kai in der Nähe des Burghügels anlegten, hatte sich das Silber des Flusses in das Gold des Sonnenuntergangs verwandelt, und eine Abordnung wartete darauf, sie zu begrüßen. Matilda erstarrte, als sie die Soldaten sah, die mit erhobenen Speeren das Ufer säumten. Auf ihren Schilden prangte der sich aufbäumende Albini-Löwe auf rotem Grund. Robert trat neben sie. Als die Schiffstaue an den Pollern festgemacht wurden, ertönte am Ufer ein lauter Befehl, und die Männer sanken unter Waffen- und Rüstungsgeklirr alle zugleich auf die Knie. Ganz vorne erkannte Matilda Adeliza und ihren neuen Mann. Vor Erleichterung machte ihr Herz einen kleinen Satz. Die erste Hürde war genommen. Sie hatten ihr Schiff ungehindert festmachen können.
Sowie sie von Bord gegangen war, steuerte Matilda geradewegs auf Adeliza zu, half ihr auf und umarmte sie unter Tränen. »Ich stehe tief in deiner Schuld«, raunte sie ihr zu. »Danke, dass du mir die Treue gehalten hast.«
»Keine Macht der Welt hätte mich daran hindern können«, erwiderte Adeliza heftig. »Du gehörst zu meiner Familie. Ich habe dich so vermisst und mir große Sorgen um dich gemacht.«
Will D’Albini wandte sich von Robert ab, den er soeben begrüßt hatte, und sank vor Matilda auf die Knie. »Kaiserin«, sagte er. »Willkommen in Arundel.«
Matilda blickte auf seine breiten Schultern und schimmern den Locken hinab. Außer dass er Stephen den Treueeid ge leistet hatte, wusste sie wenig von diesem Mann. Aber an seiner Ehre bestand kein Zweifel, und sie war sicher, dass er sie mit seinem Leben beschützte, solange sie unter seinem Dach weilte. Doch was spielte sich hinter der Fassade der Verwandtschaftsetikette ab? Vermutlich dachte er bereits eingehend darüber nach, wie er sie und Robert auf dem schnellsten Wege wieder loswurde.
Matildas Kammer war luxuriös und bequem eingerichtet. Auf den Stühlen und Bänken lagen bestickte Kissen, kostbare Behänge schmückten die Wände, Bienenwachskerzen und Öllampen spendeten ausreichend Licht. Ein schwacher Weihrauchduft hing in der Luft, und die Fenster waren sogar verglast. Adeliza mochte nicht länger Königin von England sein, aber sie umgab sich immer noch mit königlicher Pracht und der für sie typischen Atmosphäre ruhiger Gelassenheit.
Matilda ging umher, um sich mit allem vertraut zu machen. Bei der bemalten Wiege, die eine Zofe hereingebracht hatte, blieb sie stehen. Ein Baby in Windeln lag auf einer weichen Lammfelldecke. Sein Gesicht schimmerte blassrosa, die Lippen machten im Schlaf leise, schmatzende Geräusche. Der Anblick solcher Unschuld versetzte Matilda einen Stich.
»Er ist wunderschön«, sagte sie lächelnd zu Adeliza. »Ich freue mich so für dich; ich weiß ja, wie sehr du während der Ehe mit meinem Vater unter eurer Kinderlosigkeit gelitten hast.«
Adeliza erwiderte das Lächeln voller Stolz. »Ich war mir nicht sicher, ob ich Wilton wirklich verlassen
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