Die Hueterin der Krone
ihrem Vetter, Bischof Henry, und küsste mit einer Mischung aus Erleichterung und Argwohn seinen Amtsring. Gestern hatte er einen Friedenspakt mit ihr ausgehandelt und versprochen, ihr die Burg und den Schatz zu überlassen. Das waren beachtliche Zugeständnisse, doch sie traute ihm immer noch nicht. Wahrscheinlich hatte er sich ergeben, weil er auf einen Kampf nicht vorbereitet war oder wie alle anderen dachte, sie als Frau manipulieren zu können.
Sie hatte ihm zugesichert, dass er bei der Vergabe sämtlicher Kirchenposten Englands ein Mitspracherecht hatte und als ihr Berater fungierte. Im Gegenzug hatte er geschworen, ihren Anspruch auf den Thron anzuerkennen und öffentlich zu verkünden, dass sie die designierte Königin war. Außerdem hatte er versprochen, die restlichen Geistlichen als Verbündete zu gewinnen und ihr die Burg zu übergeben.
Als er ihr jetzt auf die Füße half, traten seine Ritter mit den Schatztruhen vor. Um der Zeremonie Glanz zu verleihen, waren die prunkvollsten Gegenstände auf Seidenkissen platziert worden: eine Kugel, ein Zepter und mit kostbaren Steinen besetzte Ringe, ein hühnereigroßer Rubin und zwei riesige tropfenförmige Perlen, ein mit Granaten und Saphiren verzierter Stab, ein Kelch aus Gold und Sardonyxen und ein blau und karminrot emaillierter Hostienbehälter. Die Truhen enthielten bestickte Roben aus Goldstoff und eine in königlichem Purpur, die vor schweren Perlen strotzte, dazu Säcke voller Münzen und zwei kunstvoll verzierte Schwerter. Oberflächlich betrachtet boten diese Schätze einen beeindruckenden Anblick, aber Matilda vermutete, dass vieles in den Truhen ihres bischöflichen Vetters verschwunden war. Er trug bereits ein Vermögen am Leib, und sein befestigter Palast überstrahlte die Pracht der Burg.
»Ich hatte mehr erwartet«, sagte sie kurz.
»Das tut mir leid«, erwiderte er verbindlich. »Mehr ist nicht mehr übrig.«
Sie presste die Lippen zusammen und betrachtete das letzte Kissen. Darauf lag die Krone, die ihr Vater bei seiner Krönung getragen und die Stephen gestohlen hatte. Sie war mit Juwelen besetzt, und auf den Zacken glitzerten kleine goldene Kugeln. Sie nahm sie in die Hände wie einst Heinrichs Krone in Speyer, während sie Henrys wachsamen Blick spürte, als erwarte er, dass sie sie aufsetzte. Wie wenig er sie kannte! »Ich bin nicht dein Bruder«, sagte sie knapp. »Ich halte mich an die Regeln.«
Ein Muskel an Winchesters Wange zuckte. »Ich weiß, dass du weise und gerecht herrschen … und auf deine Berater hören wirst.«
»Ich werde mein Bestes tun, der Rolle, die mein Vater mir zugedacht hat, Ehre zu machen.« Ihre Stimme gewann an Klang und Autorität. »Aber ich lasse mich nicht zu einem Werkzeug machthungriger Männer degradieren. Ich habe gesehen, was geschieht, wenn sich ein Herrscher als schwach erweist.«
»In der Tat«, entgegnete Henry in einem neutralen Tonfall und mit ausdrucksloser Miene.
Langsam und würdevoll schritt die Prozession von der Burg zum Marktkreuz in der High Street; der Bischof und Matilda Seite an Seite unter einem Baldachin, getragen von Brian FitzCount, Miles FitzWalter, Robert of Gloucester und Reynald FitzRoy. Eine Bürgerschar hatte sich versammelt, um zu hören, was ihr Bischof zu sagen hatte, und Henrys Ritter bahnten sich einen Weg durch die Menge, damit er und Matilda ungehindert und für alle sichtbar die Stufen zu dem Kreuz emporsteigen konnten.
Henry stieß seinen Krummstab drei Mal auf den Boden und holte tief Atem.
»Hier vor euch steht Kaiserin Matilda, die Tochter König Henrys und das einzige überlebende Kind, das ihm seine aus einem alten Königshaus stammende Königin Edith gebo ren hat«, verkündete er mit seiner sonoren, charismatischen Stimme. »Nun ist es an euch, ihr den Untertaneneid zu schwören.« Er beugte sich zu der untersten Stufe hinunter, um dem Priester, der das Kissen trug, die Krone abzunehmen. »Seht her«, fuhr er fort. »Dies ist Matilda, die Kaiserin, König Henrys wahre Nachfolgerin und Herrin der Engländer!« Betont langsam setzte er Matilda den Reif auf das Haupt. Die Geste war symbolisch, keine wirkliche Krönung, aber sie verfehlte trotzdem nicht die beabsichtigte Wirkung. »Lasst uns ihr huldigen und hoffen, dass sie unserem Leben Frieden und Wohlstand bringt. Wir wollen ihr für den Mut danken, den sie aufgebracht hat, und ihr auf allen Wegen folgen, auf dass wir gesegnet werden. Und möge sie weise Ratschläge beherzigen und klug, gerecht und
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