Die Hueterin der Krone
musste.
Matilda richtete sich auf und zwang sich zu einem leisen Lachen, das wie aus weiter Ferne und aus dem Mund einer Fremden zu kommen schien, denn sie war immer noch in ihrer Panik gefangen und hatte das Gefühl, nach wie vor an der Mauer zu hängen. Hugh und die restlichen Ritter kletterten zu ihnen hinab, und Hugh zog kräftig an dem Seil, als er auf dem Boden landete. Die in der Kammer zurückgebliebenen Männer lösten es von dem Pfosten und warfen es zu ihnen hinunter. Die kleine Gruppe band sich damit aneinander. Falls einer von ihnen im Eis einbrach, konnte er so von den anderen leichter herausgezogen werden, und sie konnten sich nicht verlieren, wenn das Wetter schlechter wurde. Matilda versuchte, das Seil um ihre Taille zu knoten, doch ihre Hände zitterten so stark, dass de Bohun ihr behilflich war.
Sie brachen auf. Matilda ging in der Mitte, von den Männern notdürftig vor Schnee und Wind geschützt. Der Graben stellte das erste Hindernis dar. Obwohl sie wussten, dass er zugefroren war, tasteten sie sich vorsichtig vorwärts, da sie Angst hatten auszurutschen, instinktiv aufzuschreien und dadurch die Feinde aufzuschrecken. Außerdem fürchteten sie ständig, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen von Stephens Wachposten bemerkt zu werden.
Matilda sank knöcheltief im Schnee ein, bis die Sohlen ihrer Stiefel auf Eis trafen. Sie trat behutsam einen Schritt vor, dann noch einen. Ihre Augen waren vor Furcht und vor Anstrengung geweitet, in dieser einfarbigen Welt, die sie verschluckte, Umrisse und Konturen zu erkennen. Sie lauschte auf jedes Geräusch, nahm jedoch nur den in der Dunkelheit wirbelnden Schnee wahr. Sie überquerten den Graben, traten von dem Eis herunter und stapften auf das breite Band der zugefrorenen Themse zu, das zwischen ihnen und Abingdon lag. Die Schneewehen waren kniehoch, und da sie keinem bereits ausgetretenen Pfad folgen konnten, mussten sie sich selbst einen schaffen. Die Ritter wechselten sich ab, für die anderen einen Weg zu bahnen; zerrten wie Zugpferde an dem Seil. Es war eine kräftezehrende Aufgabe, aber wenigstens kühlten sie nicht aus, und jeder Schritt führte sie weiter von Oxford fort und brachte sie ihrem Ziel näher. Matilda spürte, wie ihr Schal von ihrem Atem warm und feucht wurde, während sie an Stephens Wachposten vorbeischlichen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie sich zwischen zwei Unterständen hindurchschlängelten, aber von den Wächtern ließ sich keiner blicken. Ein Fuchs kreuzte ihren Weg, machte trotz des tiefen Schnees einen raschen Bogen um sie und verschwand.
»Weiter nördlich wären wir vermutlich auf Wölfe gestoßen«, bemerkte Ralph fröhlich.
Nachdem sie, wie es ihnen vorkam, stundenlang durch den Schnee gestapft waren, erreichten sie das Flussufer. Die kahlen Zweige der Bäume glichen mit Eiszapfen geschmückten Skeletthänden, der Schnee schimmerte an manchen Stellen silbrig, an anderen hatte er eine trübweiße Färbung angenommen. Vögel hatten zwischen den steifgefrorenen Riedgrashalmen winzige Spuren hinterlassen. Matilda starrte blicklos über den weißen Streifen des Flusses.
»So.« Ralph deutete auf die in die Nacht führenden Pfotenabdrücke. »Wenn der Fuchs aus dieser Richtung gekommen ist, müssen wir das als Omen betrachten.« Er trat vorsichtig auf das Eis. De Bohun folgte ihm, und als sich das Seil spannte und Matilda vorwärtszog, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gleichfalls in Bewegung zu setzen. Sie war von der nagenden Furcht erfüllt, sie könne plötzlich das Knacken der brechenden Eisdecke hören, spüren, wie sie unter sich nachgab, durch den aufklaffenden Spalt in das dunkle, eisige Wasser unter ihr rutschen und ertrinken wie ihr Bruder, als das Weiße Schiff untergegangen war. Noch immer wirbelten Schneeflocken durch die Luft, während sie wie eine Gruppe ungelenker Tänzer den zugefrorenen Fluss überquerten und bei jedem Schritt in dem pulvrigen Schnee versanken, bis er sich mit einem leisen Knirschen verhärtete. Jedes Mal wurde Matilda von nackter Angst geschüttelt.
Auf einmal gingen sie wieder über gefrorenes Gras an kahlen Weiden vorbei und kämpften sich durch das Gewirr überhängender Zweige zum gegenüberliegenden Ufer hinüber. Nach Atem ringend spähte Matilda über ihre Schulter. Ihre Fußspuren erstreckten sich gut sichtbar quer über den Fluss, aber wenn es so weiterschneite, waren sie bei Tagesanbruch nicht mehr zu erkennen.
»Trinkt das.« De Bohun hielt ihr eine
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