Die Hueterin der Krone
unternehmungslustiger Wildfang wart wie mein Sohn, bevor mein Vater Euch in seinen Haushalt aufnahm.«
Die Fältchen um seine Augenwinkel vertieften sich, diesmal aber, weil er lächelte. »Ja, ich bin gern durch die Umgebung gestreift, und das wurde mir auch am Hof Eures Vaters noch gestattet. Er ließ uns alle ab und an einmal von der Leine. Euer Vater wusste, wie man ungebärdige junge Hunde erzieht.« Seine Miene wurde ernst. »Natürlich konnte sich damals noch jeder ungehindert in diesem Land bewegen, ohne befürchten zu müssen, belästigt zu werden. Zu Lebzeiten Eures Vaters war die Welt eine andere.«
»Ja«, erwiderte sie. »Leider hat sich das geändert, aber diese Zeiten werden wiederkommen.«
»Wirklich?« Brian verzog grimmig das Gesicht. »Ich musste zum Räuber werden, um meine Männer und meine Pferde zu ernähren. Ich überfalle reisende Kaufleute und stehle Pferde und Kornsäcke. Ich lauere jedem auf, der aussieht, als wäre er halbwegs wohlhabend, und raube ihn bis auf das letzte Hemd aus. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich so etwas tun würde, um zu überleben, aber es bleibt mir nichts anderes übrig, und es macht mich krank, dass ich so tief gesunken bin.«
Matilda wusste, dass er auf einen Zwischenfall anspielte, der sich vor Weihnachten zugetragen hatte. Er hatte einige Händler auf dem Weg zu dem Jahrmarkt des Bischofs von Winchester abgefangen und ihre Waren und ihr Vieh beschlagnahmt. Der Bischof hatte gedroht, Brian zu exkommunizieren, und dieser hatte ein flammendes Antwortschreiben verfasst, in dem er darlegte, dass der gute Bischof die Seiten öfter gewechselt habe als der Wind seine Richtung. Er habe die Raubüberfälle nur begangen, weil der Bischof Matilda nicht die Treue halte und sie als Königin anerkenne.
Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Wir waren alle gezwungen, unser Verhalten zu ändern.«
»König Henry war wie ein Vater für mich«, erwiderte Brian ruhig. »Ich ehre sein Andenken, so wie ich es am besten für richtig halte, und diene seiner Tochter mit all meiner Kraft bis zu meinem letzten Atemzug.«
Sie streckte eine Hand aus und berührte leicht seinen Ärmel, woraufhin er schluckte und die Zähne zusammenbiss.
Henry kam mit seinen Hunden zu ihnen zurückgaloppiert. Als sie die Hand wegzog, hob Brian die seine und rieb sich den Nacken, als habe ihn etwas gestochen. Aber als er ihren Blick auffing, gab er rasch vor zu überprüfen, ob die Brosche am Halsausschnitt seiner Tunika noch fest saß.
Bei ihrer Rückkehr wurden sie bereits von einem Boten von Geoffrey erwartet. Seine Augen leuchteten, als er vor ihr niederkniete und ihr einen versiegelten Brief überreichte. »Ich bringe gute Neuigkeiten, Herrin«, verkündete er. »Rouen hat sich dem Grafen von Anjou ergeben. Die Normandie ist fest in seiner Hand!«
Matilda erbrach hastig das Siegel und faltete den Brief auseinander. Ein Gefühl des Triumphes durchströmte sie, doch ihre Freude wurde getrübt, weil Geoffreys Erfolg ihr ihre eigene Unfähigkeit, England für sich zu gewinnen und zu halten, noch stärker bewusst machte. Ihr ruhmreicher Mann hatte erreicht, was ihr verwehrt geblieben war. »Das ist in der Tat eine wundervolle Nachricht«, stimmte sie zu; entschlossen, den bitteren Beigeschmack zu schlucken und das Positive auszukosten. Sie bedeutete dem Boten, sich zu erheben, zog einen Ring vom Finger und reichte ihn ihm als Lohn für seine Dienste.
Henry hatte den Wortwechsel aufmerksam verfolgt.
»Papa hat gesiegt?« Seine grauen Augen funkelten. »Ich wusste, dass er es schaffen würde!« Er zog sein Spielzeug schwert und salutierte damit. Robert und Brian, die den Worten des Boten gleichfalls gelauscht hatten, lächelten breit. Die Freudennachricht verbreitete sich in der Halle wie ein Lauffeuer. Der Kampf um England war zwar noch nicht entschieden, aber den Kampf um die Normandie hatten sie endgültig gewonnen. Matilda wandte sich ab, um ihre Fassung zurückzugewinnen, denn der Brief enthielt noch eine andere Nachricht, die ihr einen Stich versetzte.
Sie hörte Robert nach einem Fass des besten Weins rufen. Heute Abend gab es ein Festmahl, und sie würde zu Ehren von Geoffreys Erfolg – der auch ihr und Henrys Erfolg war – ihre juwelenbesetzten Seidengewänder und Pelze tragen. Sie würde sich mit so viel Glitzer schmücken, dass niemand bemerkte, wie sie litt.
Henry sollte eigentlich zu Bett gehen, aber als Matilda seine Kammer betrat, trug er noch immer die Tunika, die
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