Die Hueterin der Krone
sie Macht ausgeübt, Würde ausgestrahlt und Zuneigungsbekundungen entgegengenommen, in der man Wert auf ihre Meinung und ihr Wohlwollen gelegt hatte? Ihr war jetzt schon klar, dass sie von Geoffrey of Anjou nichts dergleichen erwarten konnte.
»Ich weiß es nicht«, murmelte sie. »Aber in seiner Gegenwart fühle ich mich so alt.«
Henry of Blois, Abt von Glastonbury, schlug sein Gewand säuberlich über seinem Schoß zusammen, ließ sich auf der Kaminbank nieder und betrachtete seine Brüder Stephen und Theobald. Fast ganz Rouen schlief unter einem sternenübersäten Himmel, aber hier, in Stephens Unterkunft, brannten noch Kerzen in den Haltern, und auf dem Tisch stand ein kürzlich frisch aufgefüllter Weinkrug. Henry schenkte seinen Becher voll und trank, wobei er sorgfältig darauf achtete, seinen Bart nicht zu besudeln.
»Es ist geschehen«, sagte er. »Unser Onkel hat seine Tochter entgegen aller Ratschläge mit dem angevinischen Welpen verheiratet.«
Stephen füllte seinen Becher.
»Das ist allein seine Sache.« Er verlagerte seine breite Gestalt auf dem Stuhl, um bequemer zu sitzen.
»Das glaubst du doch selber nicht, oder?« Henry musterte Stephen von Kopf bis Fuß. Manchmal strapazierte sein Bruder seine Geduld über alle Maßen. »Willst du wirklich, dass eine Frau auf dem Thron sitzt? Sollen wir uns der Herrschaft eines Weibes unterwerfen?«
Stephen errötete.
»So weit wird es nicht kommen. Matilda ist für ihn nur ein Bauer, den er auf seinem Schachbrett herumschiebt. Du weißt ja, wie er ist.«
»Aber wenn es dazu kommt, ist der Einfluss von Anjou auf unsere Politik das Letzte, was wir brauchen können. Das wäre unser Ende. Besser, einer von uns übernimmt die Herrschaft als eine Frau, die ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht hat und im Begriff steht, ein halbes Kind zu heiraten.«
»Und dann ist da noch le Clito«, warf Theobald ein.
Henry sah seinen ältesten Bruder an, den amtierenden Grafen von Blois und dem Namen nach das Familienoberhaupt, obwohl Henrys politische Entscheidungen und Meinungen für gewöhnlich den Ausschlag gaben.
»Er ist im Moment unser gemeinsamer Feind, da gebe ich dir Recht.« Er beugte sich vor, und das Licht fiel auf seinen seidenen Ärmel. »Aber als Neffen des Königs habt ihr beide einen Anspruch auf England und die Normandie. Stephen hat in das englische Königshaus eingeheiratet, und unser Onkel hegt die Absicht, ihn ins Gespräch zu bringen. Wir müssen dafür sorgen, dass trotz der Eide, die wir alle schwören mussten, dies das vordringliche Ziel ist.« Er heftete den Blick auf Stephen. »Falls der König stirbt, müssen wir eine Strategie parat haben.«
Ein alarmierter Ausdruck huschte über Stephens Gesicht, und er bekreuzigte sich.
»Ich wünsche ihm ein langes Leben.«
Theobald räusperte sich.
»Ich werde mich an nichts beteiligen, das das Wohlbefinden unseres Onkels gefährdet.«
Henry verdrehte im Geist die Augen. Manchmal erinnerte das Gehirn seiner Brüder eher an Schafsvlies.
»Habe ich irgendetwas in dieser Richtung angedeutet?«, fauchte er. »Ich wünsche ihm auch ein langes Leben, aber selbst wenn unsere Base Matilda neun Monate nach der Hochzeit einen Sohn zur Welt bringt, muss der König am Leben und bei geistiger Gesundheit bleiben, bis dieser Sohn die Herrschaft übernehmen kann, und sie ist noch nicht einmal verheiratet. Jeder Narr kann sich ausrechnen, wie lange das dauert. Dasselbe gilt für einen von der Königin geborenen Sohn von seinem Blut.« Er spreizte die Hände. »Ihr sollt ihn nicht verraten, aber wir müssen vorausplanen wie ein Bauer, der Vorräte für den Winter einlagert. Wollt ihr wirklich Robert of Gloucester als Stellvertreter, obwohl einer von euch auf dem Thron sitzen könnte? Genau das wird nämlich geschehen, wenn Matilda Königin wird. Robert wird die wahre Macht hinter dem Thron sein.«
Wie Henry vorhergesehen hatte, überlief Stephen ein Schauer. Zwischen ihm und Gloucester herrschte keine Zuneigung. Seit ihrer Kindheit waren sie Rivalen – wenn sie Schach spielten, Schwertkämpfe austrugen oder um Aufmerksamkeit und Gunst des Königs buhlten. Der König hatte beiden gegenüber seine Zuneigung bekundet, aber auch stets den einen gegen den anderen ausgespielt. Stephen war leicht zu lenken, dachte Henry, außerdem hatte er als sein Bruder die beste Chance, heimlich die Fäden am Hofe zu ziehen, denn jeder Herrscher brauchte einen Verwalter an der Spitze, und jeder Herrscher konnte von diesem
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