Die Hüterin der Quelle
vergeben, um Christi willen. Du bist noch zu klein, um die Gefahr zu verstehen, zu blind, um sie erkennen zu können. Doch ich werde dich sehend machen. Das verspreche ich dir. Und dann wirst du mich nie mehr enttäuschen. Versprichst du mir das, meine kleine Lerche?«
Der Junge nickte stumm, so klamm war ihm geworden.
»Ich erwarte dich in zwei Tagen. Nein, warum eigentlich nicht schon morgen? Also morgen. Beim Mittagsläuten. Vor meinem Haus. Wir unternehmen einen kleinen Ausflug in die Alte Hofhaltung. Und dort werde ich dir etwas zeigen, was du dein Leben lang nie mehr vergessen wirst. Hast du mich verstanden, Anton?«
»Ja«, krächzte Toni. »Ja.«
Als Erstes wechselte der Beutel den Besitzer. Er war aus dünnem, abgenutztem Leder und schwerer als eigentlich vereinbart, weil der Braumeister jedes Risiko ausschließen wollte. Lieber etwas großzügiger als zu geizig, so seine Devise. Bislang war er damit immer gut gefahren. Es war ohnehin gefährlich genug, dass er seinen Gewährsmann von der Stadtwache mitten in der Nacht empfangen musste, wenn es dunkel genug war, um unerwünschte Zaungäste auszuschließen.
Der Mann nahm die Münzen, dankte kurz und machte sich eilig davon. Er war ihm nicht zum ersten Mal behilflich gewesen, und Pankraz Haller hoffte, dass es auch nicht das letzte Mal gewesen war.
Ein Stück entfernt hörte er das Schnauben der Pferde, die die Getreidefuhre von weit her gebracht hatten und die nun gefüttert und getränkt werden mussten. Der warme Ton machte ihm Mut. Er war zuversichtlich, dass alles gut gehen würde. Sein neuer Speicher außerhalb der Stadt war keinen fremden Augen zugänglich. Beim Mälzen führte niemand genau Buch. Und um Georg Schneider, der ständig und überall herumschnüffelte, würde er sich persönlich kümmern.
Trotzdem war ihm alles andere als behaglich zumute, aber blieb ihm eine andere Wahl, wenn er in diesen Notzeiten weiterhin sein Gasthaus betreiben und gleichzeitig die fürstbischöfliche Tafel beliefern wollte? Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Nur deshalb hatte er sich auf dieses Unternehmen eingelassen.
»Ihr seid nur zu zweit?«, fragte er den Fuhrknecht.
Der Mann nickte. Er war mager und klein und sah nicht aus wie jemand, der an harte Arbeit gewöhnt war.
»Dann werdet ihr länger als geplant mit dem Abladen zu tun haben. Worauf wartet ihr noch? Fangt an!«
»Oder du packen auch an«, entgegnete der Mann. Er sprach die deutschen Laute kehlig aus. »Dann wir schon drei.«
Pankraz Haller schwieg einen Moment, dann begann er zu lachen. Der Kerl hatte Recht. Wozu tatenlos im Finsteren herumstehen und abwarten, wenn seine Hände dazu beitragen konnten, dass die Angelegenheit schneller abgewickelt wurde?
Er zog seinen Rock aus, packte einen der Säcke.
»Nun denn«, sagte er. »Lasst uns die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen.«
Als sie auf der Hälfte der Leiter angelangt war, verlöschte das Talglicht. Im ersten Augenblick war Lenchen zu erstaunt, um ängstlich zu werden. Sie hob das Bein, versuchte, die nächste Sprosse zu erreichen. Aber da war kein rettendes Querholz, nichts als Leere.
Sie blieb stehen, rührte sich nicht.
»Selina!«, rief sie. »Selina. Hol mich! Ich bin hier. Ich will raus.«
Alles blieb still.
Die Dunkelheit legte sich schwerer um ihre schmalen Schultern. Sie spürte die Kühle im Nacken.
War das die Steinerne Frau, die mit kalten, toten Händen nach ihr griff?
»Ich bin ein Glückskind«, murmelte Lenchen vor sich hin. »Ich trage die Mondsichel und bin ein Glückskind, hat Ava gesagt.«
Tapfer hob sie den Fuß. Um ihn schon im nächsten Augenblick mutlos wieder sinken zu lassen.
War da hinter ihr ein Rauschen, das immer lauter wurde? Die Steinerne Frau, die ihr das Nachtlied sang?
»Lenz!«, schrie sie. »Lenz, wo bist du? Lenz …«
Sie zitterte und begann zu schluchzen. Irgendwo über ihr in der Schwärze musste die nächste Sprosse sein, doch plötzlich war alle Kraft aus ihren Beinen verschwunden.
Lenchen versuchte noch einmal, die nächste Sprosse zu erreichen, verfehlte sie und rutschte ab. Sie verlor das Gleichgewicht. Fiel rückwärts.
Mit einem dumpfen Geräusch schlug der kleine Körper auf dem Felsenboden auf.
Es war nicht mehr als eine dumpfe Ahnung, was Georg Schneider noch einmal zum Felsenkeller trieb, als es schon Nacht in Bamberg geworden war.
Die ganze Stadt kam ihm dunkler vor als gewöhnlich, obwohl doch heute eigentlich die
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