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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Härchen in seinem blassen Gesicht sehen konnte. »Ein Narr, wer die Ehe mit der Liebe verwechselt. So hast du es doch von jeher gehalten, oder?« Sein Grinsen wurde breiter. »Ich kann dich verstehen. Denn von dieser Einstellung hab ich lange gut gelebt – und werd es hoffentlich noch weiterhin, auch in diesen mageren Zeiten, wo die Prüden und die verzagten Frömmler auf einmal das Sagen haben.«
    Veit wollte etwas einwenden, aber Stoiber redete schnell weiter.
    »Bleibt natürlich unter uns. Ehrenwort! Aber Gicht heißt auch die Krankheit der Völlerei. Von allem zu viel. Du verstehst, Sternen? Man sagt, am besten dagegen sei Askese. In allem. Wer schlau ist, hält sich daran und wird gesund. Wer nicht, hat die Folgen selber zu tragen.«
    Einen Augenblick blieb es still.
    »Gibt es denn sonst gar nichts?«, sagte Veit. »Ist dagegen kein Kraut gewachsen?«
    »Schlüsselblumen natürlich, die sollen gegen jedes Zipperlein helfen. Und Bärwurz. Der freilich ist nur im Schnaps genießbar – und den sollst du ja gerade meiden. Geißfuß vielleicht noch. Vorausgesetzt, du bringst den bitteren Sud hinunter. Die Leute reden dies und das«, sagte Stoiber, nun ganz in seinem Element. »Wer so viel zu hören bekommt wie ich, könnte geradezu taub davon werden.«
    »Dann lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«
    »Etwas Spezielles? Kannst du haben! Schneidet man einer schwarzen Katze ein Loch ins Ohr, lässt die Blutstropfen auf ein Stück Brot laufen und isst dieses, so sollen die Schwellungen verschwinden.«
    »Hast du nicht Klügeres parat?«
    »Natürlich. Angeblich stärkt es das betroffene Gelenk gewaltig, wenn man einer lebenden Kröte das Bein ausreißt und es sich dann um den Hals hängt …«
    »Etwas, das wirklich hilft, Stoiber!« Veit wurde langsam ungeduldig. »Keine Ammenmärchen.«
    »Na gut, weil du es bist.« Der Bader senkte seine Stimme. »Es gibt ein Mittel. Ein einziges. Aber es ist teuer und nicht einfach zu bekommen.«
    »Und was soll das sein?«
    »Otterfett«, sagte Stoiber. »Gewonnen in einer Vollmondnacht. Aufgetragen auf die befallenen Stellen – und du bist die Gicht für immer los.«

    « Was suchst du eigentlich bei ihnen? Kannst du mir das mal verraten?«
    Selina hatte schon ihr Täfelchen hervorgezogen, wollte schreiben, aber Simon packte ihre Hand und hinderte sie daran.
    »Ich soll reden?« Ihre Hände flogen. »Nun gut, dann rede ich.«
    »Nicht so.« Er hielt sie fest, schon zum zweiten Mal. »Wenn du auf diese Weise sprichst, kann ich dich zwar verstehen – die anderen aber nicht. Das macht die Sache auf Dauer nicht einfacher für dich.«
    »Du bist doch der Einzige, der mich immer versteht.« Sie legte die Hand an seine Wange. »Ich wünschte, alle anderen wären auch so wie du!«
    »Aber das sind sie nicht«, sagten seine Lippen. »Und deshalb habe ich Angst um dich.«
    Aus dem Nebenraum kam der Duft von Holz, ein Geruch, der sie an früher erinnerte. Manchmal kam es ihr vor, als seien ihre anderen Sinne feiner geworden, seit sie nicht mehr hören konnte, die Augen schärfer, die Nase empfindlicher. Sogar ihr Tastsinn schien sich entwickelt zu haben. Aber eigentlich hatte sie immer schon gut riechen können, genau hingeschaut und Dinge gerne angefasst. Ja, so war es schon gewesen, als in ihrer Welt alles noch vollkommen gewesen war: Mamas Lachen, die Wärme des neapolitanischen Sommers, der Straßenlärm, der von draußen wie fröhliche Musik hereinströmte, die Hände des Vaters, die sie geschützt und gestreichelt hatten.
    Und natürlich Simon. Ihr großer Bruder, auf den sie so stolz war.
    Mehr denn je wünschte sie sich, seine Stimme wieder zu hören. Von allen anderen würde sie sie unterscheiden. Selina wurde jedes Mal traurig, wenn sie dies zu Ende dachte. Sie würde Simon nicht erkennen, selbst wenn sie jemals wieder hören könnte. Er war ein Mann, kein Junge mehr wie damals.
    »Also – wer sind diese Kinder?«, beharrte er. »Und was machst du mit ihnen?«
    »Eigentlich kenne ich sie kaum«, sagte sie, auf einmal vorsichtiger. »Wir spielen. Manchmal. Oder laufen einfach zusammen herum. Du hast doch selber gesagt, ich soll die Stadt erkunden, damit ich mich nicht mehr einsam fühle. Einer von ihnen, Toni, soll sehr schön singen. Und ein anderer, Lenz, versteht mich. Beinahe so wie du.«
    Die Augen verrieten seine Skepsis.
    »Aber das heißt doch nicht, dass du diesen Bettlern nachrennen musst. Sie nützen dich aus. Hast du das wirklich

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