Die Hüterin der Quelle
nötig, Selina?«
Es ging ihn nichts an, wie oft sie ihnen heimlich folgte. Dass sie die Bande regelrecht belauerte, stets darauf bedacht, ein Zusammentreffen wie Zufall erscheinen zu lassen. Die Kleinen spielten keine Rolle dabei. Die waren bloß Mitläufer in ihren Augen. Und was Kuni von ihr hielt, das wusste Selina. Mit der würde sie kein Wort mehr wechseln.
Aber schließlich war da noch Lenz. Und allein ihn zu sehen lohnte den ganzen Aufwand.
»Ja, ich weiß, sie sind Bettler – Bettler.« Sie hatte das Wort verhaltener wiederholt und hoffte, dass ihre Stimme nicht zu schrill klang. »Aber was können sie dafür, Simone?« Es tröstete sie, seinen italienischen Namen zu sagen, auch wenn er selber wenig Wert darauf legte. »Sie nützen mich nicht aus. Sie haben nur keine Mutter mehr. So wie wir. Sie müssen betteln, wenn sie nicht verhungern wollen.«
»Wir haben Marie«, sagte Simon. »Vergiss das nicht.«
Marie – als ob sie ausgerechnet das jemals vergessen könnte!
Stets hielt er zu ihr. So war es von Anfang an gewesen, als der Vater diese Rothaarige plötzlich als seine Braut ins Haus gebracht hatte. Gleich darauf hatte der Scharlach Selina gepackt, und als sie endlich aus den dunklen Schmerzenstälern der Krankheit wieder aufgetaucht war, war alles nur noch schlimmer gewesen. Die beiden waren verheiratet, und Simon hatte sich bestens mit der neuen Lage arrangiert. Er mochte Marie. Er schien ihre Anwesenheit regelrecht zu genießen. Und manchmal, besonders in letzter Zeit, da sah er sie so merkwürdig an, dass Selina sogar schon beinahe gedacht hatte, die Beiden ...
Aber das war Unsinn. Simon war jung und gesund und konnte jede in der Stadt haben, wenn er nur wollte. Und Marie war doch schon fast eine alte Frau.
»Ja, Marie«, wiederholte er. »Und das ist ein großes Glück, auch wenn du es nicht einsehen willst. Außerdem haben wir ein Handwerk, auf das wir stolz sein können. Wir sind angesehene Krippenschnitzer und nicht auf Almosen angewiesen. Mir tut weh, wenn du dich vor anderen so klein machst.«
Sie berührte die Holzmodelle, eines nach dem anderen, die er in den letzten Tagen gefertigt hatte.
»Ich mag sie«, sagte sie. »Sie gefallen mir. Die Tiere sehen schon jetzt aus, als ob sie lebendig wären. Die Krippe wird sehr schön. Vertragt ihr euch eigentlich wieder, Vater und du?«
»Sie betteln nicht nur, diese Kinder, sie stehlen auch«, sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Wieso sagte er ihr nicht, was wirklich los war? Früher hatte es niemals Geheimnisse zwischen ihnen gegeben. Aber auch das hatte sich geändert, seit Marie bei ihnen lebte. Manchmal überkam Selina das Gefühl, dass ihr alles entglitt. Dass alles, was sie einmal für sich geglaubt hatte, sich in nichts auflöste.
»Denn genau das tun sie doch – habe ich Recht?« Er begann sich aufzuregen. Sie sah es daran, wie er die Backen aufblies, wie er den Mund verzerrte. »Sollst du auch dabei mitmachen? Sei ehrlich: Haben sie dich schon dazu aufgefordert?«
»Nein. Das ist nicht wahr.«
»Nein? Und sie haben dich auch noch nicht aufgefordert, heimlich Sachen aus unserem Haus zu schaffen? Lüg mich nicht an, Selina! Ich kann nämlich in deinen Augen lesen.«
Empört schüttelte sie den Kopf. In ihren Augen stand nichts davon. Wenn er so von ihr dachte, dann sagte sie besser kein einziges Wort mehr.
»Ich bin sicher, sie werden es noch tun. Denn sie betteln und stehlen, und du treibst dich mit ihnen herum. Was ist, wenn ihr erwischt werdet? Gehst du dann ins Loch, zusammen mit deinen neuen Kumpanen? Ist es das wert?«
Einen Moment nur hatte sie nicht genau aufgepasst, da war es schon geschehen. Wörter flogen durch die Luft und sanken nieder, starr und tot. Sie hasste Augenblicke wie diese. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden gelegt und zu atmen aufgehört.
»Bläst du in mein Ohr, Simon?«, bat sie. Ein Spiel, ein altes Spiel zwischen ihnen aus der Zeit nach der Krankheit, das sie oft gespielt hatten. Das Einzige, das sie wieder lebendig machen konnte.
»Ich lass mich jetzt nicht ablenken«, sagte er. »So schlau du es auch anfängst. Mir gefällt nicht, was deine neuen Freunde tun. Das sag ich dir noch einmal ins Gesicht. Auch wenn sie vielleicht keine andere Wahl haben. Aber du hast ein Zuhause, Selina. Du frierst nicht. Und du musst auch nicht hungern. Du hast doch alles, was ein Mädchen braucht.«
Ihr Körper begann sich zu verkrampfen. Dabei hatte sie Simon heute eigentlich alles erzählen
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