Die Hüterin des Evangeliums
machen, der durch die geheime Tür kommt und geht, wie es ihm beliebt.«
Christiane sah ihn verständnislos an. »Ja – und?«
»Mein Freund Ditmold hat bisher nach einem Mörder Ausschau gehalten, dessen Wege wir nachvollziehen konnten. Nach jemandem, der die Stadt ungesehen verlassen hatte, suchte er nicht. Mit dem Wissen um die Schlupfpforte kommen Männer in Frage, die wir als Täter ausgeschlossen hatten.«
»Oh.«
Er nahm ihre Hand. »Werdet Ihr mir helfen, das Rätsel zu lösen? Um Marthas willen bitte ich Euch darum: Eure Cousine ist nicht von fremder Hand gestorben, aber letztlich steht ihr Tod im Zusammenhang zumindest mit dem Mord an Sebastian Rehm ... Christiane, vertrau mir.«
»Das werde ich tun«, versprach sie leise. »Ich werde dir geben, was ich gefunden habe, aber ich muss erst Martha begraben.«
»Gut. Ich warte.« Er hob ihre Hand an seine Lippen und presste seinen Mund länger als nötig darauf.
36
Jeder Handgriff überforderte Christiane. Es kam ihr vor, als könne sie ihre Gedanken nicht mehr ordnen. Sie fühlte sich wie in einem Drehschwindel. Dabei hatte sie nach ihremnächtlichen Besuch in Delius’ Gasthaus einige Stunden den Umständen entsprechend gut schlafen können, doch der Morgen kam und mit ihm die grausame Realität: Sie musste eine Leichensagerin losschicken, die erschreckend rasch schwindenden Münzen in Meitingers Beutel nachzählen, Marthas Beerdigung organisieren – und den Mörder ihrer beiden Männer finden. Nicht zu vergessen, dass sie nach dem alten Titus Ausschau halten sollte. Und dann war da diese seltsame Entdeckung: Wenn sie an Wolfgang Delius dachte, spürte sie seinen Mund noch Stunden nach dem Kuss auf ihren Lippen, und sie hörte im Geiste seine Stimme, die sie einlullte und ihr Herz dazu brachte, schneller und leichter zu schlagen. Die zarte Freude darüber wurde jedoch rasch von dem Schmerz über den Verlust der Cousine und Freundin vertrieben.
Der kleine Johannes greinte nach seiner Mutter und ließ sich erst beruhigen, als Christiane ihn in ihre Arme nahm. Obwohl sie eigentlich die Totenwache für Martha halten wollte, saß sie schließlich auf einem Stuhl in Severins Schreibstube, den Waisen auf ihren Knien, und blätterte mit ihm in einem reich illustrierten Buch. Die Bilder entlockten dem Kind kleine Jauchzer, und Christiane dachte sich Geschichten dazu aus, mit denen sie es außerdem erfreute. Ihre Gedanken schweiften zu ihrer Schlafkammer, in der die Leiche aufgebahrt lag. Marthas Seele wurde nun von der Magd begleitet. Sie hätte es so gewollt, entschied Christiane still, der Sohn ging ihr über alles. Außerdem gestand sich Christiane ein, dass sie das Geschrei des Buben nicht länger ertragen hätte und sie sich schon alleine deshalb ihm zuwenden musste, anstatt dem Dienst an der Verstorbenen nachzukommen.
Manchmal horchte sie auf, in der Hoffnung, ein Besucher könnte sich eingestellt haben. Doch im Haus blieb es still. Die Werkstatt war geschlossen, und niemand sprach vor, um ihrTrost zu spenden. Insgeheim wünschte sie sich, Wolfgang Delius würde nach dem Rechten schauen wollen. Er kam nicht, was in Anbetracht ihrer Bitte beim Abschied verständlich und sogar rücksichtsvoll war.
Doch Christiane sehnte sich nach einem Gespräch, das ihr weder die Magd noch der kleine Johannes geben konnte. Sie dachte an den alten Titus, der durch seine unerklärliche Abwesenheit wieder einmal nicht wusste, was geschehen war, und an ihre Eltern, denen sie eine Nachricht übersandt hatte und die dem Trauerhaus fernblieben. Vielleicht fürchteten sie sich vor dem Teufel, der in diesen Mauern hauste und die Bewohner vor der Zeit in die Hölle stieß. Möglicherweise schob ihr Vater eine Unterredung mit Christiane hinaus, denn da sie nicht mehr lange alleine für sich würde leben können, blieb Hans Walser nichts anderes übrig, als sie und den Buben bei sich aufzunehmen. Eine verwitwete Tochter, die den Tod anzuziehen schien, und ein Waise ohne jedes Erbe waren nicht die ersehnte Brut in seinem Haus. Außerdem zürnte er ihr sicher noch und strafte sie auf seine Weise für den Streit, indem er sie darben ließ. Die Geduld, die ihm selbst fehlte, trotzte der Stadtbrunnenmeister gerne anderen ab.
Als Johannes einschlief, nachdem er wieder ein wenig nach seiner Mutter gewimmert hatte, setzte sie sich an das Totenbett. Irgendwann ging die Magd, und Christiane war zum ersten Mal ganz allein in dem großen Haus. Das Kind war noch viel zu klein, um ihr ein
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