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Die Hüterin des Evangeliums

Die Hüterin des Evangeliums

Titel: Die Hüterin des Evangeliums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Galvani
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gleichermaßen schrie. Doch mit der Beruhigung ihres Schmerzes kehrte auch der Wunsch nach Geißelung zurück.
    Was tat sie da? Er war Marthas Mörder.
    Sie machte sich von ihm frei, um im nächsten Moment mit den Fäusten auf seine Brust einzuhämmern. »Ihr seid schuld an ihrem Tod«, sie wollte die Anklage herausschreien, ihrem Herzen endlich Erleichterung verschaffen, doch sie brachte nichts als ein Wimmern hervor.
    Er griff blitzschnell nach ihren Handgelenken und umschloss diese wie mit Fesseln. »Still jetzt«, zischte er.
    »Sie ist Euretwegen gestorben«, keuchte sie atemlos, während sie sich gegen ihn stemmte und ihn abzuwehren versuchte.
    Es bedurfte einer einzigen Geste, ihr die Arme auf den Rücken zu drehen. Dadurch presste er zwangsläufig ihren Körper gegen den seinen. Sein Atem streifte ihr Gesicht, doch Christiane zappelte und schimpfte weiter: »Ihr habt sie getötet.«
    »Seid Ihr verrückt? Ihr weckt noch das ganze Haus«, seine Stimme erschien ihr bedrohlich, und Christiane fürchtete sich tatsächlich für einen Bruchteil des Augenblicks vor ihm. Sie schnappte nach Luft, wollte um Hilfe schreien. Da senkte er plötzlich den Kopf und seine Lippen verschlossen ihren Mund.
    Fassungslosigkeit breitete sich in ihr aus. Sie ließ den Kuss geschehen, weil ihr nicht in den Sinn kommen wollte, was sie gegen seine Kraft ausrichten konnte. Doch auch als sie spürte, wie sich sein Griff lockerte und seine Hände ihre Schultern umfassten, stand sie still. Er vertrieb die Kälte aus ihrer Seele, schenkte ihr ein ungeahntes Gefühl von Zärtlichkeit. Ohne dass sie sonderlich darüber nachdachte, gab sie sich ihm hin. Sie schmeckte den Wein, den er zuvor getrunken hatte, und die Leidenschaft, die unvermutet von ihm Besitz ergriff. Grenzenloses Staunen erfasste Christiane und löschte die Qual in ihrem Herzen wie ein Windhauch eine Kerze.
    Zögerlich ließ er von ihr ab. Er räusperte sich, schien jedochkeine Worte zu finden. Stumm blickte er in ihr von der Tragödie gezeichnetes Antlitz.
    Christiane fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich ... ich ... sollte gehen«, haspelte sie, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Warum fühlte sich ihre Stimme plötzlich rau an? Wieso versagten ihr die Beine den Dienst? Sie war gekommen, ihn abzukanzeln, ihren Zorn über Marthas Tod an ihm auszulassen. Stattdessen stand sie so ratlos vor ihm wie er vor ihr – beide von ihren so unvermittelt aufgeflammten Gefühlen gefangen wie Delinquenten im Käfig am Pranger. Und ebenso unglücklich. Nichts war so, wie es sein sollte.
    Er wischte in einer unendlich zarten Geste die Tränenspuren von ihren Wangen. »Am liebsten würde ich mit Euch um Eure Cousine weinen«, raunte er. Dann nahm er ihre Hand und zog sie in seine Kammer. »Es mag nicht schicklich sein, aber das ist jetzt einerlei. Kommt herein und erzählt mir, was geschehen ist«, bat er und schloss die Tür mit einem Fußtritt.
    »Sie ist tot«, wiederholte Christiane leise.
    »Hmmm«, er nickte, »das tut mir sehr leid.«
    Sie sah in seine vor Traurigkeit glänzenden Augen. Im Licht des einzigen Kerzenstumpen, der auf dem kleinen Schreibtisch brannte, konnte sie nicht genau erkennen, ob sein Blick tatsächlich in Tränen schwamm, doch seine Seelennot war allzu deutlich.
    Selbst wenn Martha an gebrochenem Herzen gestorben ist, fuhr es ihr plötzlich durch den Kopf, ich hätte sie beschützen sollen. Es war mein Fehler ...
    »Ich war zu beschäftigt«, brach es aus ihr heraus. »Der Arzt hätte viel früher geholt werden müssen. Selbst der Priester kam zu spät, weil ich nicht einsehen wollte, was unvermeidbar war. Ich habe nicht zur rechten Zeit nach dem Geistlichen geschickt ... und nun ist sie ohne die Sakramente gestorben ...«, ihre Stimme verlor sich in erneutem Schluchzen.
    Er zog sie wieder in seine Arme. Mit beruhigender Zärtlichkeit strich er über ihr Haar. »Scht«, machte er leise. »Es ist schlimm, dass Martha nicht mehr unter uns ist, aber es ist Gottes Wille und nicht mehr ungeschehen zu machen. Niemanden trifft Schuld daran, Euch am allerwenigsten. Ihr wart immer gut zu ihr und dem Kleinen ...«
    Seine tiefe, sanfte Stimme zu hören tat ihr wohl. Es war nicht einmal der Inhalt seiner Worte, allein der Klang beruhigte sie. Unwillkürlich lehnte sie die Stirn gegen seine Schulter. Mit einiger Verzögerung wurde ihr bewusst, welches Vertrauen sie diesem fremden Mann mit ihrer Geste entgegenbrachte – und wie verletzlich sie selbst dadurch wurde.

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