Die Hüterin des Evangeliums
gespendet. Wer hatte einmal gesagt, dass jedes Ende auch einen Anfang darstellte? Christiane konnte sich nicht daran erinnern, aber Marthas Bemerkung über Wolfgang Delius’ Aufmerksamkeit ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Still schritt sie neben ihm durch die in schläfriger Ruhe versunkene Herberge und hinaus auf die dunkle Gasse.
Auf ihrem Hinweg war ihr nicht aufgefallen, wie frisch es war, jetzt fror sie erbärmlich. Sie wünschte, er würde den Arm um sie legen und sie nicht nur mit schönen Worten, sondern mit seinem Körper wärmen. Doch natürlich war eine Umarmung auf offener Straße undenkbar. Es war zwar finster und niemand sonst unterwegs, aber wer wusste schon, was sich hinter den Fassaden abspielte und wer des Nachts am Fenster stand? Drei Morde, ein natürlicher Todesfall, der Schuldenberg und ein verschwundener Schwäher sowie der fortgelaufene Geselle – ein Skandal um ihre Person war eigentlich das Letzte, was fehlte, um sie endgültig zu ruinieren, dachte Christiane bitter. Sie schlang die Arme um ihre Brust und biss die Zähne zusammen. Zumindest war es kein weiter Weg, den sie zitternd vor Kälte zurücklegen musste.
Der Hufschlag galoppierender Pferde durchbrach die Stille. Unwillkürlich umfasste Wolfgang Delius ihre Schulter und zog sie zur Seite. Die Reiter preschten an ihnen vorüber, mit einem Mal war der Markt hell erleuchtet, denn der Trupp wurde von Fackelträgern angeführt. Dadurch war das Wappen auf den Rüstungen deutlich erkennbar: Ein Doppeladler, der einen Schild mit verschiedenen Insignien trug, darunter auch den goldenen Löwen der Habsburger. Delius pfiff leise durch die Zähne.
»Der Kaiser schickt eine Botschaft«, konstatierte er. »Wenn es seine Kuriere dermaßen eilig haben, muss es eine dringende Nachricht für den König oder den Reichstag sein.«
»Es passiert so viel in meinem Leben, dass ich darüber ganz vergesse, was sonst noch in der Stadt geschieht.«
Scheinbar gedankenverloren strich er mit den Fingerspitzen über ihre Wange. »Das ist nur verständlich. Jedenfalls kann ich Euch jetzt sicher nach Hause geleiten, denn durch die Ankunft der kaiserlichen Ritter werden alle Wachen diesseits und jenseits der Stadttore auf den Beinen sein.«
Christiane lachte leise. »Ach, es bedarf nicht unbedingt der Torwächter, um des Nachts in die Stadt zu kommen. Man kann ungesehen hinein – oder verschwinden, je nachdem, wohin man möchte. Habt Ihr noch nichts von der Schlupfpforte gehört?«
»Nein. Was ist das?«, fragte er, während sie ihre Wanderschaft durch das nächtliche Augsburg wiederaufnahmen. Nebeneinander und ohne sich zu berühren – wie es sich gehörte.
»Das ist eine Tür in der Stadtmauer. Eigentlich sollte es ein Geheimnis sein, aber jedermann weiß davon. Sebastian sagte ...«, sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, den die Erinnerung an ihren Freund heraufbeschwor. Trotz brüchiger Stimme fuhr sie entschlossen fort: »Sebastian Rehm erzählte mir, dass Martin Luther auf diesem Wege hatte fliehen können. Damals, als er zum Verhör in der Stadt war.«
Der Verleger hob den Kopf und starrte sie an. Es war zu dunkel, um seine Mimik zu erkennen, aber seine Überraschung klang aus seinen Worten: »Jetzt erinnere ich mich, in einem Buch über Martin Luther davon gelesen zu haben. Wie konnte ich das nur vergessen? Damit kann jeder, der behauptet, in der Stadt gewesen zu sein, unkontrolliert auf Reisen gehen – und ebenso wieder zurückkehren ...«
»Das mag Euch im Moment aufregend erscheinen, aber hier ist es nicht so wichtig, weil jeder Bürger über die Schlupfpforte Bescheid weiß.«
Er schien sie nicht gehört zu haben, denn ihm entfuhr als Antwort nur ein zusammenhangloses: » Revoco .«
Eine Weile lang marschierte er schweigend weiter, offenbar damit beschäftigt, seine Schlüsse zu ziehen. Christiane unterbrach ihn nicht in seinen Gedanken, denn sie wollte lieber nicht an die Manuskripte in ihrem Weinkeller erinnert werden. Nicht jetzt, dachte sie, bitte nicht heute Nacht. WolfgangDelius war ihr so nahe – sie wusste, dass sie ihm die Wahrheit anvertrauen würde, wenn er sie danach fragte. Doch mit der toten Martha in ihrem Haus stand ihr nicht der Sinn danach, Sebastians Betrügereien zu offenbaren.
Schließlich blieb er stehen. »Ich glaube, der Hinweis Eures Lehrlings bezog sich nicht nur auf die Fälschungen«, sagte er bedächtig, »sondern auch auf die Geschichte von damals. Anton wollte uns auf einen Mann aufmerksam
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