Die Hüterin des Evangeliums
Kamerad zu sein.
Eine bislang unbekannte Furcht griff nach ihr. Sie schreckte bei jedem Knacken der Holzbalken auf, lauschte auf imaginäre Schritte vor dem Tor und fürchtete sich vor einem Blick durchs Fenster in die Dunkelheit. Die Angst vor dem Mörder, der kommen und die Fälschungen einfordern könnte, war ebenso groß wie ihr Grausen vor Luzifer. Sie hatte nie den Aberglauben der anderen geteilt, aber in dieser Nacht umkreistensie alle Dämonen, von denen sie auch nur mal am Rande gehört zu haben glaubte.
In einer Anwandlung von Vernunft versuchte sie, die Fakten folgerichtig zu überdenken. In der zeitlichen Reihenfolge stand der Giftmord an Sebastian Rehm zuoberst auf ihrer Liste. Nein, stimmt nicht, korrigierte sie sich in Gedanken: Die Fälschungen waren zuerst da. Dann hatte Sebastian sterben müssen. Warum? Hatte der Täter erfahren, dass sich der Autor an einen Verleger in einer fremden Stadt gewandt hatte? Ging es um Verrat? Ja, das war zweifellos das Hauptmotiv, denn es ging ja auch um Verrat am eigenen Glauben – jedenfalls für Sebastian, indem er Pamphlete über Martin Luther verfasste.
Verzweifelt versuchte Christiane, sich an einen Anhaltspunkt zu erinnern. Was war in der Zeit zwischen Sebastians Tod und Severins Reise nach Ulm geschehen? Sie konnte sich nicht entsinnen. Damals waren ihr Denken und Handeln erfüllt gewesen von ihrer Begegnung mit Georg Imhoff in Rehms alter Wohnung, es hatte sie nichts anderes interessiert. Wenn sie sich anstrengte, glaubte sie in eigentlich vergessenen Bildern zu erkennen, dass sich Severin in den Wochen vor seinem Tod zunehmend von ihr zurückgezogen hatte. Dafür war sie dankbar gewesen, nichts sonst. Und dann war ihr Gatte nicht mehr heimgekehrt ...
Ihre Gedanken verloren sich wieder in eine andere Richtung. Ihre Affäre mit Georg Imhoff belastete ihr Gedächtnis. Was hatte er mit ihr getan? Sie wusste es noch immer nicht genau, obwohl sie ihm inzwischen nicht mehr zutraute, dass er sie genommen haben könnte, nachdem sie ohnmächtig geworden war. Er hatte sie berührt und ihre Leidenschaft gestillt – sie errötete, als sie sich ihrer Wollust entsann –, aber er war nicht in sie eingedrungen. Dessen war sie sich fast sicher. Letztlich konnte sie es nur vermuten und hoffen, dass dies dieWahrheit war. Und wie ein Damoklesschwert senkte sich mit plötzlicher Brutalität die Gefahr über sie, die von der Französischen Krankheit ausging, an der ihr einstiger Geliebter vielleicht litt, vielleicht auch nicht ...
Müdigkeit erfasste sie. Während sie darüber grübelte, wie sie herausfinden könnte, ob Georg Imhoff infiziert war und sie sich angesteckt hatte, wurden ihre Lider schwer. Ihr Kinn sank herab, und sie schlief im Sitzen ein.
Ein Alptraum bemächtigter sich ihrer. Sie sah sich als weiblicher Kentaur, als ein Wesen, halb Mensch, halb Pferd, das von zwei Reitern bestiegen wurde. Der eine war Gott – der andere der Teufel. Als Hylonome bockte und kämpfte sie, Satan abzuschütteln, doch es mochte ihr nicht gelingen. Er steckte seine Klauen in ihre Öffnung und hielt sie auf diese Weise fest – bis sie schrie. Vor Lust, vor Qual, vor Verzweiflung ...
Ihre eigene Stimme weckte Christiane.
Sie riss die Augen auf und sah sich erschrocken um, gefangen noch in ihrem Traum. Die mit goldenen Symbolen verzierten Trauerkerzen, die sie vor etlichen Stunden an den Seiten des Totenbettes entzündet hatte, warfen ein gespenstisches Licht in den Raum und zeichneten Schatten auf Marthas wächsernes Gesicht.
Nur langsam kehrte Christianes Bewusstsein in die Gegenwart zurück. Der Schauer, den der Alpdruck über ihren Rücken geschickt hatte, verwandelte sich in ein anhaltendes Zittern. Sie versuchte, ihren Ängsten mit einer nüchternen Erklärung zu begegnen ...
In diesem Moment polterte etwas.
Irgendwo im Haus fiel ein Gegenstand um, dann schabte etwas über den Boden.
Wie versteinert lauschte sie nach den Geräuschen. Doch unvermittelt war es wieder so still wie zuvor.
Wahrscheinlich eine Maus, fuhr es ihr durch den Kopf. Oder Titus, der endlich nach Hause gekommen war.
Im nächsten Moment wurde ihr klar, dass sie nach dem Rechten sehen sollte. Vielleicht war Severins Vater nicht wohl, er konnte auf der Treppe gestolpert und hingefallen sein. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte es geklungen, als sei ihm der Stock aus den Händen geglitten. Es war ihre Pflicht, dem alten Mann zu Hilfe zu eilen.
Sie gähnte, wischte sich den Schlaf aus den Augen,
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