Die Hüterin des Evangeliums
Seele. Mochten die Leute sie für allzu verstört halten, wenigstens schleppten sie sie nicht zur Inquisition.
Christiane saß am Fenster in Severins Schreibstube und starrte in den blassblauen Himmel eines freundlichen Tages,während sie die Magd irgendwo im Haus mit dem kleinen Johannes spielen hörte. Alles wirkte wieder friedlich. Bei Lichte betrachtet konnte sie die Erinnerung an die vergangene Nacht selbst kaum fassen. Sie hatte geschlafen, war wegen eines Geräuschs aus einem Alpdruck gerissen worden und hatte den Teufel leibhaftig zu sehen geglaubt. Kein Wunder nach ihrem Traum. Sie hatte natürlich niemandem von Kentauren und den lüsternen Fingern des Teufels erzählt, aber irgendwie fügte sich ihr persönliches Resümee in die Medizinermeinung.
Es wäre wohltuend, an den Trugschluss einer übermüdeten Frau glauben zu können, wenn die herbeigeeilten Wachen nicht die Spuren eines Einbruchversuchs an der Kellertür gefunden hätten und irgendwer behauptete, einen Teufelstritt vor dem Tor auf der Gasse ausgemacht zu haben.
Hin und her gerissen zwischen Vernunft und Aberglauben versuchte Christiane, das Geschehene zu verstehen. Vielleicht wunderte sich der Rat, warum jemand in Meitingers Weinkeller eindringen wollte, sie tat es nicht, und sie war überzeugt davon, dass auch Bernhard Ditmold und Wolfgang Delius die richtigen Schlüsse zogen, wenn sie von Christianes nächtlichem Besucher erfuhren. Die Frage war nur: Warum suchte der Teufel nach den Fälschungen? Ihr fielen eine Menge mystischer Gründe ein, aber mit einem letzten Rest Realitätsnähe sagte sie sich wieder und wieder, dass sie einem Irrtum erlegen war. Sie hatte nicht Satan ertappt, sondern ein menschliches Wesen, das sich schwarz angemalt und einen dunklen Pelz getragen hatte. Der Fußabdruck mit dem Sporn sprach jedoch dafür, dass sie Luzifer leibhaftig begegnet war ...
Erst als Stimmen auf der Stiege sie aufschreckten, wurde Christiane bewusst, dass sie nun doch eingedöst sein musste. Die Magd brachte einen Besucher zu ihr, wie es sich anhörte. Mit fahrigen Bewegungen richtete sie ihr Haar, strich die Falten in ihrem Kleid glatt. Dann erhob sie sich. Ihr Herz schlugschneller in der Hoffnung, dass Wolfgang Delius den Weg zu ihr gefunden hatte.
Pater Ehlert trat durch die Tür. »Ich hörte, was heute Nacht geschehen ist, und dachte, Ihr bedürftet meines Beistandes.«
Enttäuschung und Entsetzen wechselten sich in ihren Gefühlen ab. Obwohl sie sich um eine Maske der Höflichkeit bemühte, konnte sie nicht verhindern, dass die freudige Erwartung aus ihren Zügen wich. »Wenn Ihr gekommen seid, um den Teufel aus meinem Leib zu treiben«, presste sie müde hervor, »dann könnt Ihr gleich wieder gehen. Ich bedarf keines Exorzisten.«
»Das sagen alle Besessenen«, erwiderte er ruhig. Er blieb wohlerzogen am Eingang stehen, in Erwartung ihrer Aufforderung, näher zu treten.
Christiane schwieg.
Eine Weile lang wartete er auf eine andere Reaktion, dann fügte er hinzu: »Allerdings ist mir bewusst, dass Eure Seele ein anderes Heilmittel als eine Teufelsaustreibung braucht.«
Was gab es denn da noch?, fragte sich Christiane still und wünschte sich, die Kraft zu besitzen, Pater Ehlert von ihrer Schwelle zu weisen. Sie wollte nicht mit ihm sprechen. Doch statt genau das zu sagen, packte sie alberne Neugier, und sie erkundigte sich: »Welche Hilfe bietet Ihr mir an?«
»Die Wahrheit«, versetzte er.
»Wenn Ihr in der Wahrheit meinen Glauben an Gott meint, so ist dieser ungetrübt.«
Zu ihrer größten Überraschung schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Respekt, Meitingerin, gut pariert. Ihr seid wahrlich eine kluge Frau. Dennoch irrt Ihr Euch. Ich möchte mit Euch keine Glaubensfragen diskutieren, sondern Euch in einer dringenden Angelegenheit sprechen«, seine Miene wurde wieder ernst: »Es geht um die Mordfälle.«
Christiane stockte der Atem. Ihre Lungen füllten sich mitLuft, die sie nicht auszustoßen in der Lage war. Unwillkürlich hob sie ihre mit Arnika behandelte und verbundene Hand an die Brust.
»Es liegt mir fern, Euch zu erschrecken«, behauptete der Jesuit. »Es ist jedoch an der Zeit, einige Fragen zu klären ...«, ein lautes Scheppern unterbrach ihn. Offenbar machte sich die Magd direkt vor der Schreibstube mit Eimer und Besen zu schaffen.
»Ja? Fahrt fort.«
»Nun, mir scheint, hier können wir uns nicht ungestört unterhalten. Würdet Ihr einen Spaziergang mit mir unternehmen?«, fragte er und fügte
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