Die Hüterin des Evangeliums
rasch hinzu, als er ihr Zögern bemerkte: »Ihr seid sehr bleich, ein wenig frische Luft dürfte Euch guttun. Außerdem ist heute herrliches Wetter.«
Auch wenn der Teufel ins Haus eingedrungen war, fühlte sie sich in ihrem Heim beschützter als anderswo. Sie besaß nach der vergangenen Nacht nicht die Kraft, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen. Außerdem war fraglich, ob ihre Beine sie überhaupt mehr als einige Schritte tragen würden. Eigentlich sollte sie sich ausruhen. Christiane wollte nicht mit dem Priester plaudernd umherwandern. Alles sprach gegen seinen Vorschlag.
Doch als sie den Mund zu einer Absage öffnete, meldete sich ihre innere Stimme zu Wort, die ihr riet, sich mit Pater Ehlert zu unterhalten. Wenn sie je wieder Frieden finden wollte, musste sie die Hintergründe kennen, die zu den schrecklichen Taten geführt hatten. Und von Anfang an hatte sie der Eindruck beschlichen, dass Pater Ehlert in irgendeinem Zusammenhang mit dem Geschehenen stand: Er hatte mit Sebastian kurz vor dessen Tod gesprochen, er war in der Posthalterei Auerbach gewesen, als Severin erschlagen wurde, und er schien sie in den vergangenen Wochen auf Schritt und Tritt verfolgt zu haben. Es lohnte sich, ihn anzuhören.
Christiane übersah nicht, dass sie den Geistlichen für verdächtig hielt. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er der Mörder war. Zweifellos ging von diesem Mann eine Gefahr aus. Aber auch eine gewisse Faszination.
Sie nickte. »Gut. Ja. Gehen wir spazieren. Aber bitte nicht zu weit, ich fühle mich nicht wohl.«
Er lächelte hintergründig, und sie fragte sich unwillkürlich, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war. »Ach, Meitingerin, manchmal reicht ein langer Fußmarsch nicht aus, um alles in Worte zu fassen, was einem auf der Seele brennt.«
Die hochstehende Sonne brachte die Fassaden der Häuser zum Strahlen. Christiane musste die Lider zusammenkneifen, um in dem grellen Licht überhaupt etwas sehen zu können. Dennoch war ihr die Helligkeit angenehm. Es fühlte sich gut an, wie die Wärme durch den Stoff ihres Trauerkleides drang. Es war ein wunderschöner Frühsommertag, und Pater Ehlert eignete sich perfekt für einen Spaziergang. Still schritt sie neben ihm an den Mauern des alten, vor einigen Jahren geschlossenen Dominikanerinnenklosters von St. Katharina entlang. Die Neugier brannte nicht mehr so stark auf ihrer Seele wie zuvor, sie genoss das Wetter und war ihm dankbar für sein Schweigen, das kurz für eine gewisse Harmonie zwischen ihnen sorgte. Für einen flüchtigen Moment spürte sie fast so etwas wie Ausgeglichenheit.
»Habt Ihr Euch nie gefragt, warum der Protestant Sebastian Rehm ausgerechnet mich an sein Sterbebett holen ließ?«, erkundigte sich der Jesuit plötzlich.
Christiane war sich nicht sicher, ob sie ihm dankbar dafür war, dass er ohne Umschweife zur Sache kam. Es störte ihren Seelenfrieden, ohne Vorwarnung auf »die Wahrheit«, wie er es genannt hatte, angesprochen zu werden. Obwohl sie mit angemessener Distanz zu dem Geistlichen einhergelaufenwar, wich sie nun unwillkürlich einen weiteren Schritt zur Seite.
»Ja, natürlich habe ich das«, gestand sie nach einer Weile. »Ich dachte, Sebastian Rehm habe zum katholischen Glauben zurückgefunden.«
»Warum sollte er deshalb einen Bruder der Gesellschaft Jesu rufen? Überdies war ich damals noch recht fremd in der Stadt. Wäre es nicht naheliegender gewesen, der Gemeindepfarrer hätte ihm die Sterbesakramente verabreicht?«
Auf ein Ratespiel war Christiane nicht unbedingt aus, und wenn es ihr in irgendeinem Moment an Geduld mangelte, dann in diesem: »Ich habe keine Ahnung, Pater, und wenn Ihr mir nicht unverzüglich sagt, worauf Ihr hinauswollt, werde ich kehrtmachen und nach Hause gehen.«
Er schmunzelte. »Nicht so eilig, Meitingerin, wir kommen schon noch zum Ziel ... und Ihr müsst dafür nicht bis nach Ingolstadt wandern.« Vor dem Tor der Klosterkirche hielt er inne. Interessiert blickte er an dem Gebäude empor bis zur Spitze des gotischen Turms. »Warum ist das Portal mit Ketten verriegelt?«
»Das Konvent wurde vor zwanzig Jahren oder so geschlossen, ich weiß es nicht genau«, erwiderte Christiane emotionslos und ohne sich sonderlich für das Thema zu begeistern. »Es war ein Stift für Töchter aus den Patrizierfamilien, das der Reformation zum Opfer fiel. Der Prior wurde aus der Stadt gejagt, glaube ich, und der Bischof hat die Kirche geschlossen. Nichts Besonderes, wie Ihr hört.«
»Schade. Die
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