Die Hüterin des Evangeliums
die Schulter riskierte sie einen Blick nach hinten: Der Stallknecht war weit zurückgefallen, noch ein oder zwei Galoppsprünge, und sie wäre außer Sichtweite für ihn. Von dem taubstummen Burschen war jedoch so oder so wohl keine Hilfe zu erwarten. Es stand außer Frage, warum Imhoff ausgerechnet diese Begleitung auserwählt hatte.
Christiane spürte, wie sie ihr eigenes Gewicht nach unten zog. Sie verlor den Rhythmus und hing nur noch auf dem Rücken der Stute. Längst hatte sie die Kontrolle über das Tier verloren. In ihrer Verzweiflung krallte sie die Finger in seine Mähne.
»Bitte, lieber Gott, liebes Pferdchen ...«, murmelte sie mit bebenden Lippen.
Es war sicher nicht mehr weit bis zu einer vermeintlich rettenden Lichtung, denn Helligkeit stach vermehrt in den dunklen Wald. Wenn sie bis zu einer Wiese oder einem Feld durchhielt, konnte sie versuchen, sich auf den weichen Boden fallen zu lassen. Diese Vorstellung erschien ihr aussichtsreicher als ein Sturz zwischen den Bäumen, wo sie mit dem Kopf auf Wurzeln, abgebrochene Äste oder den Stamm aufschlagen konnte.
Was aber würde Imhoff tun, wenn er herausfand, dass sie sich nicht den Hals gebrochen hatte?
Ihr selbigen umdrehen!
Christiane überlegte, ob sie die Möglichkeit zur Flucht besaß. Eigentlich folgte sie Imhoff wie ein Lamm der Herde zur Schlachtbank. Ihr fehlte jedoch die reiterliche Geschicklichkeit, ihm auszuweichen, wenn er ihr nachsetzte.
Der Schweiß brach Christiane aus allen Poren. Vor ihr öffnete sich das dichte Netz der Tannen zu einer weiten Lichtung, an deren Ende eine Wasseroberfläche im Sonnenlicht glitzerte.
Imhoff war ihr einige Fuß voraus, am Schattenspiel auf seinem Rücken erkannte sie, dass sich der Himmel mittlerweile bewölkt hatte. Schwüle senkte sich über die in sattem Grün schimmernde Wiese. Es war unheimlich still, nicht einmal Vogelgezwitscher war zu vernehmen.
Vielleicht war es eine Täuschung, Christiane glaubte jedoch, zwischen den Halmen die langen, hellbraunen Ohren eines Hasen zu erkennen. Die Anwesenheit eines anderen Lebewesens beruhigte sie.
Plötzlich zügelte Imhoff sein Pferd und wendete es blitzschnell in ihre Richtung.
Was hatte er vor?
Ihre Augen flogen über das Gelände auf der Suche nach einem Ausweg, einem Schutz, der Rettung ...
Im Gras raschelte es.
Einen Herzschlag später zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Stille.
Erschrocken stieg die Stute. Das Pferd warf die Vorderhufe durch die Luft, sein Wiehern klang wie ein Angstschrei. Seine hektischen Bewegungen katapultierten Christiane aus dem Sattel. Sie spürte, wie sie durch die Luft segelte. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie den Boden auf sich zurasen.
Dann sah sie nichts mehr.
46
»Auf Georg Imhoff ist Verlass«, behauptete Bernhard Ditmold grimmig, nachdem er von seiner Mission in die Gaststube zurückgekehrt war, wo Wolfgang Delius in ungewöhnlicher Gesellschaft auf ihn gewartet hatte. »Er hält sich für so bedeutsam, dass er seine Dienerschaft darüber unterrichtet, wohin er unterwegs ist.«
»Vielleicht will er für seine Gemeindemitglieder erreichbar sein«, erwog der alte Titus und ließ seine glasigen Augen zwischen dem Assessor und dem Verleger aus Frankfurt hin und her wandern. Mit vor Aufregung und Trunkenheit zitternden Händen griff er nach dem Weinkrug mit frisch aufgefülltem Inhalt, den die Schankkellnerin vor nicht allzu langer Zeit auf Wolfgangs Geheiß in Titus’ Reichweite auf dem Tisch platziert hatte. »Die Einkerkerung der Schobers wird Imhoff zugesetzt haben. Nicht aus Mitleid, aber aus Furcht, dass die Leute irgendwann seinen Namen und die der anderen Täufer nennen.«
»Wo ist er denn nun hin?«, insistierte Delius.
Er war verärgert, weil Ditmold auf seine Begleitung zu Imhoffs Haus verzichtet, nachdem sich der Alte zu erkennen gegeben hatte. Genau genommen hatte sein Freund ihn gebeten, bei Christiane Meitingers Schwäher in der Gaststube zu bleiben, da auch er ihn nicht noch einmal aus den Augen verlieren wollte. Er hatte Delius zu verstehen gegeben, dass er sich irgendwelche Auskünfte erhoffte. Welcher Art diese sein sollten, blieb offen, und dieser konnte sich nicht erklären, was der gebrechlich wirkende, anscheinend betrunkene Titus zu den Morden noch beitragen sollte, nachdem der Täter entlarvt worden war. Deshalb konnte er sich einer gewissen bitteren Schadenfreude nicht erwehren, weil Ditmold am Obstmarkt so wenig erreicht hatte.
Die drei Männer saßen an dem Tisch am
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