Die Hüterin des Evangeliums
saßen sich an dem anderen Tisch am Fenster gegenüber und verschlangen heißhungrig den Früchtekuchen, von dem Delius inzwischen gelernt hatte, dass er in Augsburg »Datschi« genannt wurde. In einer dunklen Ecke neben dem um diese Jahreszeit kalten Kamin kauerte ein alter Mann. Dieser schien sich unter seinem Umhang zu verstecken, hatte eine Kapuze tief in die Stirn gezogen und stierte in den zweiten Krug Wein. Ein Zecher, der wahrscheinlich über sein verpfuschtes Leben sinnierte. Ansonsten war die Gaststube leer.
Enttäuscht, dass sich ihm kein erfreulicherer Anblick bot, schaute der Verleger wieder auf den Brief. Aber an der notwendigen Eingebung, das Schreiben zu vollenden, fehlte es ihm weiterhin.
Obwohl ihm der Gedanke nicht behagte, fiel ihm ein anderes Billett ein. Er war verärgert darüber. Christiane Meitinger hatte ihn benachrichtigt, dass sie anderweitig beschäftigt war und ihn nicht empfangen konnte.
Ihre Abweisung war besonders schmerzlich, weil er gehofft hatte, durch sie endlich in den Besitz der Fälschungen zu gelangen. Immerhin kursierten Gerüchte, dass Kurfürstenrat und Fürstenrat vor einer Lösung der Religionsfrage standen und bereits an einer gesamtständischen Erklärung arbeiteten, die dem König schnellstmöglich vorgelegt werden sollte. Wenn der Mörder oder die Verschwörer eine gemeinsame Resolution verhindern wollten, mussten sie unverzüglich in den Besitz der Pamphlete gelangen und diese veröffentlichen.Sein Bemühen, dies zu verhindern, zwang ihn dazu, Sebastian Rehms Manuskript alsbald zu vernichten. Doch dafür musste er dessen erst einmal habhaft werden.
Aber da waren auch seine Eitelkeit und ein anderes Gefühl, dem er ganz gewiss nicht auf den Grund zu gehen beabsichtigte. Nach dem Kuss war er überzeugt gewesen, Meitingers schöne Witwe für sich eingenommen zu haben. Ihre ablehnende Haltung zeigte ihm nun deutlich, dass dem offenbar nicht so war. Er war nicht auf eine Affäre in Augsburg aus, deshalb war er nicht hierher gereist, und er würde die Stadt, wie vorgesehen, allein in Richtung Venedig verlassen, sobald Ditmold den Täter dingfest gemacht hatte. Es stand jedoch ebenso außer Frage, dass Christiane Meitinger ihn tief berührt hatte. Seltsamerweise fielen ihm auf Anhieb eine Menge Vorzüge dieser Person ein, aber eben kein einziger Grund, Amalie Delius, geborene Ammann, seine Liebe zu gestehen.
Die Tür flog auf. Ein leichter Luftzug blies über die Papierbögen. Schwere Schritte durchmaßen die Wirtsstube, und unwillkürlich sah er zu dem neuen Gast auf. Bernhard Ditmold war mit wehendem Talar auf dem Weg zu ihm, das Gesicht hochrot vor Anstrengung. Sein Atem ging rasselnder als sonst. Offenbar war er in höchster Eile gekommen.
Wolfgang schob ihm mit dem Fuß einen Stuhl zurecht, doch sein Freund setzte sich nicht, sondern stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und verkündete atemlos: »Sie hat geredet.«
»Was hat die Schoberin gesagt?«
»Der Mann, den wir suchen, ist der Schriftsteller Georg Imhoff. Er ist der Prediger der Augsburger Täufergemeinde ...«
Wolfgang stieß hörbar die angehaltene Luft aus seinen Lungen.
»Anton soll bei Sebastian Rehm belastendes Material gegenImhoff gefunden haben. Wenn ich das richtig verstanden habe, war es in der Nacht, als die Meitingerin an Rehms Totenbett eilte und den Lehrling als Begleitung mitnahm. Daraufhin hatte der dumme Junge nichts anderes zu tun, als Imhoff mit seinem Wissen zu erpressen. Seine Eltern erfuhren zu spät davon, haben aber natürlich alles versucht, ihren Prediger zu schützen und ihren Sohn zur Vernunft zu bringen. Antons Uneinsichtigkeit endete jedoch tödlich.«
»Das erklärt den Mord am Lehrling Anton, aber nicht an Sebastian Rehm und Severin Meitinger«, erinnerte Delius. »Es sind noch viele Fragen offen, die ...«
»... die uns Imhoff höchstselbst beantworten wird«, vollendete Ditmold. »Wenn du dabei sein willst, solltest du dich beeilen, mein Freund. Vor der Tür warten zwei Wachen auf meine Rückkehr. Wir sind auf dem Weg zum Haus des Dichters. Er wird sein glanzvolles Leben unverzüglich mit dem schmerzvollen Alltag im Kerker tauschen müssen. Nun, was ist mit dir?«
Nach einem flüchtigen Blick auf den begonnenen Brief schob Wolfgang seine Schreibutensilien zusammen. Der Heiratsantrag für Amalie würde noch ein wenig warten müssen. Es gab Wichtigeres für ihn zu tun.
»Verzeihung«, erklang unvermittelt eine schwache, schwankende Stimme wie aus dem
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