Die Hüterin des Evangeliums
in sich zusammenzufallen und – schlimmer noch – in den Kissen zu schrumpfen. Der Druck seiner Hand blieb jedoch überraschend fest, ganz so, als würde er sich an sie klammern wie an einen Rettungsring.
Doch sie konnte ihn vor dem Untergang nicht bewahren. Der Strom des Todes riss ihn erbarmungslos fort. Martha spürte, dass ihrem geliebten Mann nicht mehr zu helfen war. Gott würde ihn vor ihr, dem kleinen Johannes und dem noch ungeborenen Kind holen. Das ist pure Grausamkeit, sinnierte sie verzweifelt. Sie hatte sich vorgenommen, nicht vor Sebastian zu weinen. Er sollte nicht sehen, was ihr mit seiner unerklärlichen Krankheit angetan wurde. Er konnte nichts dafür, aber das Schicksal war erbarmungslos. Sie biss die Lippen aufeinander und blinzelte energisch die Tränen fort, die sich in ihre Augen gestohlen hatten.
»Ich wette, es gibt mehr Menschen in dieser Stadt, die noch nie in ihrem Leben weißes Brot gekostet haben, als solche, die nicht wissen, wie ein Laib aus Roggenmehl schmeckt«, sagte Sebastian.
»Nun, ja, aber es wird doch auch gut für die Armen gesorgt. Wo sonst gibt es ein Almosenamt und eine Fugger-Stiftung?«
»Das ist nichts als Betrug«, Sebastian schnaufte verächtlich.»Die Räte und ebenso die Fugger wollen sich doch nur selbst einen Platz im Himmel sichern. Die im irdischen Leben Bedürftigen sind ihnen egal.«
Martha gab es auf, seinem Lamento zu folgen. Was interessierten sie auch das Bettelverbot und die Verköstigung der Almosenempfänger auf Kosten von edlen Spendern, wenn aus Sebastians Körper das Blut strömte? Der rote Schleim, den sie mitsamt Sebastians Erbrochenem vorhin aus einer Schüssel in den Abort gegossen hatte, ängstigte sie mehr als jede finanzielle Not. Ihr brach das Herz, als sie sich vorstellte, wie stark die Schmerzen sein mussten, denen ein sich innerlich auflösender Leib ausgesetzt war. Sebastian brauchte dringend eine Arznei, die ihm wenigstens Linderung, wenn schon nicht Heilung verschaffte. Er hatte ihr zwar verboten, nach einem Arzt zu schicken, doch je länger sie sich fügte ...
»Ich hätte dir gerne ein anderes Leben geboten, Martha. Es tut mir so leid, dass es nicht anders gekommen ist.«
Mit der freien Hand streichelte sie seine bleichen, unrasierten Wangen, die dunklen Bartstoppeln wirkten wie ein Trauerschleier. »Ich liebe dich, Sebastian«, sagte sie ernst. »Und deshalb werde ich jetzt einen Medicus rufen ...«
»Nein!« Seine Fingernägel gruben sich in ihren Daumenballen. »Nein, geh nicht. Bitte. Ich möchte keinen Arzt. Er kann mir nicht helfen, das ist aus dem Fenster geworfenes Geld.«
»Du darfst dir keine Sorgen wegen der Kosten machen. Ich habe ein paar Münzen gespart, und auch Christiane würde sicher ...«
»Nein! Ich habe ›nein‹ gesagt, hast du das nicht verstanden?«
Martha zuckte unter seinem barschen Ton wie nach einem Hieb zusammen. Sebastian hatte sie nie geschlagen, sie hatten sich nicht einmal besonders häufig gestritten. Dazu hatten siewahrscheinlich nicht ausreichend Zeit zusammen verbracht, Auseinandersetzungen waren ihrer Ansicht nach wohl älteren Ehepaaren vorbehalten. In diesem Moment jedoch fühlte sie sich, als sei sie von ihrem Mann mit der Rute durch die Stube getrieben worden. Obwohl sie einem Sterbenden nicht zürnen wollte, konnte sie nicht umhin, ihm ihre Hand zu entziehen. Es geschah wie von selbst.
»Wie du wünschst«, entgegnete sie kühl.
Seufzend schloss er die Augen. Sie konnte nicht sagen, ob er über ihren kleinen Zwist stöhnte oder einfach nur ermattet war. Wenn er einschliefe, würde sie sich gegen seinen Willen hinausstehlen und einen Arzt oder einen anderen Heiler holen. Es war gut, dass sie den kleinen Johannes bei einer Nachbarin unterbringen konnte. So weckte das Kind seinen Vater nicht, und sie hatte ein wenig mehr Bewegungsfreiheit.
»Ich möchte einen Geistlichen sprechen«, verlangte Sebastian plötzlich. »Bitte, Martha, geh und hole einen Priester. Am besten den Jesuiten.«
Sie traute ihren Ohren nicht. »Ich soll einen katholischen Geistlichen an dein Bett rufen? Ein Jesuit soll unser Haus betreten?« Unwillkürlich schlug sie das Kreuz vor der Brust, obwohl sie Derartiges in Sebastians Gegenwart schon lange nicht mehr getan hatte.
»Ja ... Ja, das ist der einzige Mensch, der mir vielleicht noch helfen kann.«
Jetzt wird er auch noch wahnsinnig, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie dachte an die Teufelsaustreibung, von der Christiane ihr erzählt hatte, und daran, dass
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