Die Hüterin des Evangeliums
er und sein Freund möglicherweise nur knapp einem Überfall entgangen. Nicht nur, dass er darauf bestanden hatte, im Dunkeln nach Auerbach zu reiten, er hatte auch auf die gewohnt schwere Bewaffnung verzichtet, mit der Herren seines Standes für gewöhnlich reisten. Er verstand, dass Verleger auf dem Weg zur Buchhändlermesse zur Verteidigung gegen Diebesgesindel gerüstet sein mussten – aber doch nicht unter dem Jahr und ohne jede Ware im Gepäck.
Unwillkürlich drehte er den Kopf zu Bernhard Ditmold. Dieser musste einen ähnlichen Gedankengehabt haben, denn im Lichtschein erkannte Wolfgang das blanke Entsetzen indessen Miene. Ein Assessor war dazu gut, Verbrecher zu verurteilen, nicht aber, ihnen zu begegnen.
Wolfgang beschloss, dass ihn der Tote nichts anging. Er fror, war hungrig und litt unter seinen malträtierten Muskeln. Um dem eigenen Leiden ein Ende zu bereiten, sprang er aus dem Sattel. Der Boden schwankte unter ihm, als er mit den Stiefeln auftraf.
»Kann einer von Euch mein Pferd versorgen?«, fragte er in die Gruppe.
Er stand direkt vor den Männern. Die Fackelreihe teilte sich. Niemand sprach mehr ein Wort. In stummer Beklemmung gaben die Leute den Blick frei auf eine provisorisch aus Ästen zusammengebaute Trage, die von den vier stämmigsten Kerlen getragen wurde. Ein Kienspan beleuchtete den Leichnam darauf. Wolfgang ahnte, dass es besser war, den Blick abzuwenden. Dennoch starrte er auf den zertrümmerten Schädel – fasziniert und angewidert zugleich.
Das hagere, von Falten zerfurchte, wächserne Antlitz des Toten war noch relativ gut erkennbar. Nicht aber die Stelle, wo mal sein Haar gewachsen sein musste. Der Oberkopf war ein schrecklicher Brei aus verkrustetem Blut, gräulicher Hirnmasse, Knochen und irgendetwas anderem, was vielleicht Haarsträhnen gewesen waren. Er brauchte kein erfahrener Leichenbeschauer zu sein, um zu sehen, dass mit einem schweren Gegenstand hemmungslos auf den Unglücklichen eingeschlagen worden war.
Wolfgang hörte, wie Bernhard in seinem Rücken die Luft durch die Zähne zog. Sein Blick wanderte an der Kleidung des Toten hinab. Er registrierte einfache, aber gute Garderobe. Womöglich war es kein reicher Mann, offensichtlich gehörte er jedoch einem besseren Stand an. Ob es sich gelohnt hatte, diesen Menschen zu überfallen und zu töten? Vogelfreie waren hinter jeder Kupfermünze her. Manchmal waren sie nurauf der Suche nach einem Kleidungsstück gegen die Kälte im Wald. Über wen die Acht verhängt war, der hatte kein Geld und keine Bleibe. Wolfgang wusste zwar nicht, wie zahlreich die Stadträte von Augsburg diese Strafe durchsetzten, und jeder Verurteilte wurde auch nicht unmittelbar zum Räuber und Mörder, aber ganz offensichtlich hatte ein Schutzengel ihn und seinen Freund begleitet.
»Der Vogt sollte umgehend benachrichtigt werden«, erklärte Bernhard mit einer Sachlichkeit, die Wolfgang Bewunderung abnötigte. Er kämpfte indes mit seinem Magen, was sich besserte, als er den Blick von dem Erschlagenen abwandte.
»Das Dorf gehört zum Besitz des Heilig-Geist-Spitals zu Augsburg«, berichtete ein Mann mittleren Alters, bei dem es sich offenbar um den Anführer der Gruppe handelte. »Es untersteht nicht einem Vogt, Herr, sondern dem Rat der Stadt.«
Ditmold, der auf dem Pferderücken sitzen geblieben war und durch die erhöhte Position viel Autorität ausstrahlte, nickte.
»In solch einer Nacht kann ich keinen Mann guten Gewissens durch den Wald zur Stadt gehen lassen«, fuhr der Rädelsführer rasch fort, bevor ihn der vornehme Fremde genau dazu auffordern konnte. »Außerdem werden die Tore längst geschlossen sein.«
»Das ist sicher richtig. Dann muss die Angelegenheit also bis zur Morgenstunde warten. Es ist ein Glück, dass ich zur Stelle bin. Ich bin Assessor und werde Eure Aussagen aufschreiben, Männer, und in Augsburg dem Reichserbmarschall vorlegen.«
Ein überraschtes Raunen ging durch die Gruppe. »Aber warum wollt Ihr denn nicht zum Stadtrat, Herr?«, erkundigte sich einer der jüngeren Kerle im Hintergrund.
»Es ist Reichstag«, erläuterte der Jurist geduldig, »da untersteht die Gerichtsbarkeit in der Stadt nicht dem Rat, sondern eben dem Reichserbmarschall. Diese Bestimmung erstreckt sich auf alle Besitztümer auch außerhalb ... So, nun helft mir aus dem Sattel und berichtet, was geschehen ist.«
Einer der Männer bleckte sein zahnloses Gesicht, während Bernhard aus dem Sattel stieg und seine Zügel dem Wortführer
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