Die Hüterin des Evangeliums
munteren Klänge, an Christianes Finger zu lutschen. Mit erstaunten Kinderaugen beobachtete er den Einzug der Musiker.
Das Gedränge um sie her wurde größer. Christiane wurde gestoßen und geschubst und hatte Mühe, nicht zu taumeln. Es wurde gefährlich, den eigenen Gedanken nachzuhängen. Am Ende würde ihr noch der Bub aus den Armen gerissen und von den aufgeregten, unachtsamen, begeisterten Leuten zertreten werden wie ein Wurm.
Tot, fuhr es Christiane durch den Kopf. Lieber Gott, mach, dass sich Pater Ehlert einen üblen Scherz erlaubt hat. Wenn das der Preis ist, werde ich eben nicht dafür sorgen, dass er der Stadt verwiesen wird.
Die Masse trennte sie von dem Geistlichen. Christiane ließ sich im Getümmel treiben wie ein herrenloses Boot auf dem Lech. Ihr wurde schwindlig von den vielen Menschen und der Lautstärke um sie her. Der Kopf dröhnte ihr, als sich die üblichen Jahrmarktsgeräusche mit den Trompetenklängen, dem Johlen der Zuhörer und dem Klingeln in ihren Ohren bis zur Unerträglichkeit mischten. Eiserne Hämmer trommelten gegen ihre Schläfen.
Sie sollte zusehen, dass sie schnell und sicher nach Hausekam, obwohl sie sich dafür gegen den Strom stemmen musste. Den kleinen Johannes fest umklammernd, das Köpfchen des Buben mit einer Hand schützend umschlossen, kämpfte sich Christiane durch die Menge, plötzlich blind gegen die geliebten Attraktionen.
15
Wolfgang hatte die Verhältnisse, die ihm in der Unterstadt begegneten, nicht erwartet. Der Mann, der seinem Vater die verzweifelten, erschreckenden Zeilen geschrieben hatte, war gebildet und offenbar zu allerlei befähigt. Wieso wohnte dieser in einer derart heruntergekommenen Gegend? Zwar wusste Wolfgang natürlich, wie schlecht Schriftsteller zuweilen bezahlt wurden, aber bei einem Autor von der Qualität des Briefeschreibers war ein ordentliches Auskommen anzunehmen.
In der Nähe der Adresse, die er dem Absender entnommen hatte, wurde gehämmert, und von irgendwoher erklang das schrille Geräusch eines Schleifers, es stank nach einer Gerberei und dem Kot und Unrat in der Gosse. Dabei war ihm bei seiner Ankunft am Morgen aufgefallen, wie sauber die Straßen in Augsburg waren. Die Reinlichkeit schien sich allerdings nur auf die vornehme Oberstadt zu beschränken, wo die Stufen seines Gasthauses mit Tüchern belegt wurden, um die Treppen blitzblank zu halten. Den Spaziergang zu Sebastian Rehms Haus überstanden seine Stiefel weniger makellos. Einem Eimer schmutzigen Wassers, der unmittelbar vor seinen Füßen in den Rinnstein geleert wurde, wich er – in Gedanken versunken – zu spät aus. Das Weib, das ihren Abfall über Wolfgang ergoss, krümmte sich vor Lachen.
Argwöhnisch betrachtete Wolfgang das Schild mit der Hausnummer. »Wohnt hier der Dichter Sebastian Rehm?«,erkundigte er sich bei der Frau. Einen Blick nach unten verkniff er sich, obwohl seine Zehen eine gewisse Feuchtigkeit zu spüren schienen – diesen Gefallen tat er der hämischen Nachbarin seines Zieles nicht.
»Rehm?« Das Weib grinste breit, und eine Reihe brauner Stumpen kam in ihrem Mund zum Vorschein. »Kenn ich nich’ ...«
»Natürlich nicht«, seufzte Wolfgang und kramte in seiner Tasche nach einer Kupfermünze. Als wolle er das Metall prüfen, hielt er es ins Licht und bemerkte beiläufig: »Solltet Ihr wissen, wo Sebastian Rehm wohnt, gehört dies schöne Stück Euch.«
Sie schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Vielleicht erinnere ich mich ... is ja auch schon lange her ...«
Ein Mann zog einen mit Weinfässern beladenen Karren durch den Unrat und rief der Frau etwas in tiefstem Schwäbisch zu, das Wolfgang nicht verstand, aber offensichtlich derb oder lustig oder beides war, denn sie wand sich erneut unter dem eigenen Gelächter.
Wolfgang steckte die Münze wieder in seine Tasche. »Ich habe keine Zeit, die ich verschwenden könnte ...«
Der Weinhändler blieb stehen, ließ seinen Karren los und baute sich vor dem offensichtlich vornehmen Fremden auf. Aus kleinen, stechenden Schweinsäuglein in einem rot angelaufenen, feisten Gesicht musterte er Wolfgang vom Scheitel bis zur Sohle.
Der Blick war unangenehm, sogar bedrohlich, und das Bild des eingeschlagenen Schädels tauchte vor Wolfgangs innerem Auge auf. Er wünschte, Bernhard Ditmold hätte ihn begleitet. Doch sein Freund hatte nach ihrer Ankunft zur Mittagsstunde zuerst dem Reichserbmarschall Auskunft erteilen wollen, und da Wolfgang seine Zeit nicht auf dem Jahrmarkt vertrödeln und
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