Die Hüterin des Evangeliums
Brust gezogen – und dann entdeckte sie das Blut, das erst langsam aus ihrer Öffnung tropfte und später in Strömen an ihren Beinen entlanglief.
Panik erfasste sie. Sie wünschte, Christiane bei sich zu haben. Selbst Titus Meitinger war besser als gar keine Unterstützung. Die alte Magd, die Martha in der Küche mit den Pfannen klappern hörte, kam nicht, wenn sie nach ihr rief. Sie hielt die neue Hausbewohnerin für eine weitere Dienstbotin, und von ihresgleichen ließ sie sich keine Befehle erteilen. Bislang war Martha diesem Verhalten mit Gleichgültigkeit begegnet, doch nun sollte sich ihre Gutmütigkeit rächen. Zwar versuchte sie, um Hilfe zu rufen, doch wie nicht anders zu erwarten war, passierte nichts – das Hausfaktotum stellte sich taub. Vielleicht war ihre Stimme auch zu schwach, um gehört zu werden.
Martha verlor ihr Zeitgefühl. Sie sah zwar eine blasse Maisonne hinter den Wolken durch ihr Fenster scheinen, aber sie konnte die Stunde nicht von den Strahlen ablesen. Beim Schlagen einer Kirchturmuhr verzählte sie sich. Sie berechnete die Zeiträume jedoch richtig, als ihr klar wurde, dass Wehen ihren Körper durchfuhren.
Das Ungeborene war ein letztes Geschenk von Sebastian. Sie wollte es nicht verlieren. Doch ihr Körper konnte es nicht mehr beschützen. Sie spürte den verzweifelten Kampf zwischen dem Kind und ihrem Leib, er zerschnitt ihren Bauch mit jenen Schmerzen, die eigentlich mit dem intensiven Glücksgefühl einer Geburt verbunden sein sollten. Nie hätte sie für möglich gehalten, dass dies in einem so frühen Stadium ihrer Schwangerschaft möglich war – dass es so weh tun und ihre Seele zerstören würde.
Das Blut strömte aus ihr heraus und durchweichte das Bettzeug. Sie lag in ihrer eigenen warmen, klebrigen Flüssigkeit, konnte sich kaum bewegen und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit dem ungeborenen Kind zu sterben.
Atemlose Schreie, mehr ein Keuchen, entrangen sich ihrer Kehle. Sie konnte die Pein nicht mehr stumm ertragen. Nie zuvor hatte sie sich so einsam gefühlt.
Ein dumpfes Pochen an der Haustür drang in ihre Dachkammer hoch. Stimmen. Mehrere Männer sprachen auf die Magd ein, Worte waren jedoch nicht zu verstehen. Dann ein spitzer Klagelaut, von dem Martha zunächst annahm, er käme aus ihrem Mund, doch tatsächlich war es wohl die Magd, die ihrem Entsetzen Luft gemacht hatte. Für einen Moment war Martha von sich selbst abgelenkt. Sie versuchte zu lauschen – vergeblich, das Gespräch wurde zu leise geführt.
Eine dicke, feuchte Masse schwemmte aus ihrem Unterleib. Martha biss sich die Lippen blutig. Sie wusste, dass dies das Kind war, welches die Geborgenheit ihres Schoßes verließ –verlassen musste. Das Schicksal entriss es ihr, wie es ihr Sebastian genommen hatte. Sie zwang sich, ihre Finger nicht suchend über das Lager gleiten zu lassen, um das Letzte, das sie von Sebastian hatte, wenigstens einmal zu berühren.
Ihr Verstand lag im Nebel, aber sie war nicht bewusstlos, und eine vernünftig klingende, innere Stimme flüsterte ihr zu, dass mit der Fehlgeburt vielleicht ein Rückgang der Blutungen einhergehen könnte.
Woher sollte sie wissen, dass es tatsächlich so war? Sie war keine Hebamme, hatte noch keiner nahen Verwandten oder Freundin bei einer ähnlichen Situation beigestanden. Junge Weibsbilder lernten, eine gute Hausfrau zu werden, aber sie wurden nicht über die Vorgänge in ihrem Körper unterrichtet. Wahrscheinlich war es gut, dass dieses Kind gestorben war. Möglicherweise wäre es ein Mädchen geworden, dem sie ein Erlebnis wie dieses ersparte. Diese Überlegung setzte sich in ihrem Hirn fest, während der Lebenssaft wie ein Wasserfall aus ihrer Mitte floss, schlimmer als zuvor.
Es würde nicht mehr lange dauern, und sie würde verblutet sein. Sie musste etwas unternehmen, wenn sie überleben wollte. Doch ging es ihr tatsächlich darum? Wollte sie leben? Wollte sie nicht vielmehr Sebastian und dem Ungeborenen in die andere Welt folgen, von der die Priester sagten, sie sei das Himmelreich?
Das Bild ihres Sohnes trat vor ihr geistiges Auge. Seit sie in der warmen Behaglichkeit dieses Hauses lebten, litt er seltener unter Atemnot. Sein Lachen klang in ihr Ohr, als krabble er neben ihrem Lager auf dem Fußboden herum. Sie sah seine ausgestreckten Ärmchen, wenn er von ihr getragen werden wollte, was sie ihm viel zu häufig verweigerte. Unter Christianes Obhut würde er zu einem kräftigen Buben heranreifen, später ein gutaussehender
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