Die Hüterin des Evangeliums
Sebastian hätte niemals ein falsches Zeugnis in einer so wichtigen Angelegenheit abgelegt. Dennoch bin ich sicher, dass ich Teile des Textes auf einem Bogen sah, den ich einmal zufällig halb verkohlt in der Glut unseres Ofens fand.«
Christiane konnte Marthas Anschuldigung nichts entgegenhalten. Natürlich war es möglich, dass ihr toter Freund irgendwo auf eine Schrift gestoßen war, die zumindest Martin Luthers Haltung gegenüber der Taufe in einem neuen Licht erschienen ließ. Unter diesen Umständen wäre verständlich, warum Sebastian angesichts des Todes nach einem Priester und den Sterbesakramenten gerufen hatte. Dennoch mochte Christiane nicht so recht an diese Möglichkeit glauben. Vor allem war da ein Gespräch mit Sebastian, das ihr seit ihrem ersten Blick auf den Text nicht mehr aus dem Sinn ging.
»Sagt dir die Sekte der Wiedertäufer etwas?«, fragte sie nach einer Weile.
»Das sind Leute, die vor Jahren für ziemlich viel Wirbel in der Stadt sorgten. Einige wurden eingekerkert und vom Rat ausgewiesen, glaube ich. Dein Vater nahm mich zur Hinrichtung eines Mannes mit, der zur Täufergemeinde gehörte. Aber damals war ich noch klein und kann mich deshalb kaumnoch erinnern. Diese Sektierer wollten ihre Neugeborenen nicht taufen lassen, weil diese noch nicht glauben können und deshalb die Erwachs...«, Martha schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Großer Gott, das ist ja der Text von Martin Luther!«
»Ganz genau. Weißt du, nachdem ich dies alles hier Zeile für Zeile gelesen habe, frage ich mich, ob jemand absichtlich das Wort Luthers schmähen möchte. Die Zeit ist günstig. Es ist Reichstag, und es wird der Religionsfrieden debattiert.«
»Aber Sebastian kann damit nichts zu tun haben! Er war kein Aufrührer ...!«
»Das behauptet niemand«, parierte Christiane rasch. Sie blätterte in dem Stapel Papier und zog einen Bogen heraus. Es sah aus wie ein Flugblatt – und es trug das Siegel der Druckerei Meitinger. »Schau dir diesen Text einmal an«, forderte sie ihre Cousine auf.
» Martin Luther beging Selbstmord «, Martha erstarrte. Obwohl ihr der Vortrag sichtlich schwerfiel, fuhr sie fort: » Ein Zeuge bestätigt, dass alle Hausleute, die um den Vorgang wussten, eidlich verpflichtet wurden, die Sache nicht auszubreiten zur Ehre des Evangeliums ... Das ist ungeheuerlich! Dann hat sich Luther also versündigt, und der Papst hat recht, wenn er vom Teufel in Menschengestalt spricht.«
»Ich glaube nicht, dass dieser Text der Wahrheit entspricht«, versetzte Christiane ruhig.
»Wie? Aber es steht doch hier schwarz auf weiß ...«
»Schon, doch ich hörte bereits von Gerüchten über Fälschungen aus unserer Druckerei ...«, Christianes Stimme verlor sich in ihrer Nachdenklichkeit.
Es schien unmöglich, aber wenn sie an die Anschuldigungen Conrad von Hallenslebens dachte, war es durchaus wahrscheinlich, dass es sich bei ihrem Fund um bösartige Verleumdungen Martin Luthers handelte. Warum hatte Severindiese in seinem Weinkeller versteckt? War er am Ende so fanatisch in seinem katholischen Glauben gewesen, dass er das Wort des Reformators gebeugt hatte? Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, dass er so weit gegangen wäre. Seine Berufsehre war Meitinger heilig gewesen, er hätte niemals etwas getan, was seinem Privileg widersprach.
Da fragte Martha prompt: »Wie konnte Meitinger so etwas tun? Ich meine, wie konnte er diese schändlichen Behauptungen überhaupt drucken, so sie denn eine Lüge sind?«
Christiane schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der Leuchter zitterte und Wachs von der Kerze tropfte. »Schluss damit. Herr von Hallensleben wird jetzt mit mir reden müssen. Unter den gegebenen Umständen habe ich ein Recht darauf, zu erfahren, was vor sich geht.«
Marthas Lippen bebten. »Glaubst du, Sebastian hat Schuld auf sich geladen?«
»Nein, keinesfalls«, Christianes Stimme war wieder so sanft wie immer, wenn sie von ihrem verstorbenen Freund sprach: »Er war ein guter Mann ... Auch Severin war das. Ich hatte viel an meinem Gemahl auszusetzen, aber niemals würde ich seinen Anstand in Zweifel ziehen. Deshalb verspreche ich dir herauszufinden, was Sebastian und der Meitinger mit dieser Sache zu tun haben.«
20
Ihre Augen waren rot gerändert nach der durchlesenen Nacht, aber Christiane störte sich anfangs nicht an ihrem wenig attraktiven Äußeren, als sie die beiden Besucher empfing, die am Vormittag vorsprachen. Sie war schließlich gerade erst verwitwet,
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