Die Hüterin des Evangeliums
verschwinden.
»Ade!«, verabschiedete sich der Bader und ging mit zufriedener Miene seines Weges.
Was hatte sie getan, dass ihr Gott nach allen anderen Problemen nun auch noch diese Prüfung auferlegte? Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte Christiane den Wunsch nach einer Beichte. Vielleicht half es, den Rosenkranz zigmal zu beten. Oder einen Ablassbrief zu kaufen. Vielleicht sollte sie einen Pfarrer um Rat bitten ...
»Grüß Gott, Meitingerin!«
Sie erschrak so heftig, als sehe sie den Leibhaftigen vor sich. Eben hatte sie sich noch geistlichen Beistand herbeigewünscht – und nun schob sich die dunkle Gestalt Pater Ehlerts in ihr Blickfeld. Er schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Genauso wie auf dem Jahrmarkt, als er ihr von Severins Tod berichtet hatte. Was hatte er ihr heute zu sagen? Welche Schrecklichkeiten lagen ihm auf der Zunge, dass er wieder so unvermittelt an sie herantrat? War er vielleicht doch Luzifer, der kam, um sie, die sich Imhoff hingegeben hatte, in die Hölle zu holen? War er gar kein Exorzist, sondern der Teufel selbst? Sie erschauerte.
Ohne sich an ihr Gespräch mit Wolfgang Delius und Bernhard Ditmold zu erinnern und daran, dass sie Pater Ehlert nach seinem Aufenthalt in der Posthalterei Auerbach fragen wollte, raffte sie ihre Röcke. Sie wollte fort, weg von ihrem Vater, der sich nicht für ihre Seelenpein interessierte, Imhoffs Dunstkreis entfliehen, der sie schmerzlich an seinen Charme und seine Leidenschaft wie an ihre gefährlichen Sehnsüchte erinnerte, und ganz gewiss suchte sie nicht die Nähe des Jesuitenpaters, der immer dann in ihr Leben trat, wenn Verzweiflung und Tod nahe waren. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, rannte sie davon – zurück zum Haupteingang der Siedlung und in Sicherheit.
23
Christiane fühlte sich schlecht, als sie einsam neben Severins aufgebahrten Sarg stand und die Beileidsbekundungen ihrer Nachbarn und Bekannten entgegennahm. Ihre Beklemmung rührte weder von ihren Begegnungen am Vortag in der Fuggerei oder der Unterredung davor her noch von der Zeremonie der Leichenfeier in ihrer Stube – es war vielmehr Titus MeitingersAbwesenheit, die ihr Unbehagen bereitete. Der alte Mann gehörte an ihre Seite, beim Abschiednehmen in Severins Haus ebenso wie bei der sich anschließenden Totenmesse und dem nachfolgenden Leichenschmaus. Sie hatte ihren Gatten verloren, er aber seinen Sohn – und wenn sie die Trauer in Zuneigung maß, war Titus ihr sicher weit überlegen.
Es war ihr jedoch nicht möglich, länger mit der Bestattungszeremonie zu warten: Severins Leichnam musste in geweihte Erde gelegt werden, die Leute redeten schon, und die Kosten für den Eiskeller überstiegen jede vernünftige Investition. Da Christiane nicht wusste, wohin Titus gegangen war, konnte sie nicht einmal einen Eilboten aussenden, um ihn zu informieren. Also hatte sie den Toten endlich in seiner Stube aufbahren lassen, wie es sich gehörte – allerdings mit einer Einschränkung: Sie hatte darauf bestanden, dass der Sarg vor Eintreffen der Besucher geschlossen wurde.
»Was sind das für Sitten, Tochter?«, beschwerte sich Hans Walser prompt. »Es ist Tradition, dass der Leib des Verstorbenen sichtbar ist, während von ihm Abschied genommen wird.«
Christiane schluckte die Bemerkung, die ihr auf den Lippen lag, grollend hinunter. »Das Schicksal hat es mit dem Kopf meines lieben Mannes nicht eben gut gemeint.« In Gedanken fügte sie hinzu, dass sie den Leichengeruch wahrscheinlich auf Monate nicht aus den Vorhängen waschen und von den Wänden schrubben konnte, wenn der Sarg offengeblieben wäre; zwischen Severins Tod und seiner Beerdigung lag einfach zu viel Zeit.
Der Stadtbrunnenmeister knurrte einen unverständlichen Protest. Er warf einen Zustimmung heischenden, flüchtigen Blick über die Schulter, aber Christianes Mutter hielt sich wie immer still im Hintergrund und mischte sich in den Disput nicht ein.
»Es ist besser«, fügte die Tochter schneidend hinzu, »mein lieber Mann wird allen, die um ihn weinen, so in Erinnerung bleiben, wie er vor dem Unglück aussah. Das solltest du eigentlich am besten wissen, Vater.«
»Obwohl wir die sterblichen Überreste unseres Bruders Severin Meitinger nicht sehen können, dürfen wir hoffen, dass er im Jenseits mit Leben erfüllt sein wird«, erklang die freundliche Stimme eines Priesters hinter Hans Walser.
Christiane fühlte sich von Pater Ehlert verfolgt. Schon wieder stand er ohne Vorwarnung vor ihr. Was tat er in
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