Die Hüterin des Evangeliums
konnte. Hätten seine Hände nicht Christianes Finger umklammert, er hätte sich sicher eine Träne aus dem Augenwinkel gewischt. Doch so hielt er sich an sie und schob ihre Begegnung damit in den Mittelpunkt des Geschehens. Jeder im Raum sollte offenbar sehen, wie sehr sich der Freund um die Witwe zu kümmern beabsichtigte – und dass er mit ihr gemeinsam um den Verstorbenen trauerte.
Doch Christiane hatte nicht die geringste Absicht, auf die Rolle des edlen Ritters hereinzufallen. Ein Mann, der sich dermaßen dreist die Frau eines anderen nahm, war ganz gewiss nicht ohne Tadel. Ihr Gemüt hatte sich zwar in der vergangenen Nacht etwas abgekühlt, und sie sah Imhoffs Part in ihrem Leben nüchterner, aber sie konnte ihm einfach nicht ohne Vorbehalte begegnen. Genau das musste sie jedoch, wie ihr bewusst geworden war, denn Severins Tod hatte ihr Verhältnis zu dem Dichter auf eine andere Basis gestellt: Er war ein erfolgreicher Autor – als Witib des Druckermeisters musste sie mit diesem Mann zusammenarbeiten; keinesfalls durfte sie sich erlauben, seine Werke an einen Konkurrenten zu verlieren.
Sie entzog ihm ihre Hände, um gleich darauf mit den schwarzen Bändern zu spielen, die vom Mieder ihres neuen, pünktlich zur Beerdigung fertiggestellten Trauerkleides herabhingen. »Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid«, sagte sie förmlich. »Es ist sehr freundlich, dass Ihr von meinem armen Gemahl Abschied nehmt. Er wäre gewiss glücklich, würde er von Eurer Anwesenheit wissen.«
»Seid Ihr es auch?«
Christiane wurde blass und puterrot zugleich. Was wollte er? Sie vor den anderen Bekannten des Toten bloßstellen? Oder versuchte er bereits, ein Recht auf sie einzufordern? Vielleicht war sie als verheiratete Frau für einen leichtsinnigen Galan begehrenswert gewesen, als Witib des wohlhabenden Druckermeisters Meitinger stellte sie jedoch eine ausgesprochen gute Partie dar. Severin hatte Imhoff viel Geld für seine Werke bezahlt, das erkannte man allein am Lebenswandel des Dichters – als ihr Ehemann würde er jedoch noch mehr an den Veröffentlichungen verdienen als ein großzügiges Autorenhonorar. Sie kannte die Summen nicht, aber ihr war klar, dass die Münzen in ihrer künftigen Beziehung von Bedeutung sein würden.
»Natürlich ist es eine große Ehre für mich, dass Ihr meine Trauer teilt«, erwiderte sie.
Er nahm sie beim Arm und zog sie ein paar Schritte weiter, als wolle er die Zuhörer wieder ausschließen.
Christiane zögerte, entschied sich dann aber für die Kapitulation. Gleichgültig, welchen Eindruck ihr heimlicher Dialog machte, sie würde nichts tun, was nicht von Dutzenden Augenpaaren beobachtet werden durfte. Stumm ließ sie sich also von Imhoff in den kleinen Erker schieben, wo er sich nah an sie drängte und ihr mit gesenkter Stimme verschwörerisch zumurmelte: »Auf ein Wort, meine Teure ...«
Der Platz, auf dem sie standen, war eng. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihrer Wange, und dies löste die widersprüchlichsten Emotionen in ihrem Körper aus. Nach ihrer Begegnung in Rehms alter Wohnung hatte sie eigentlich gehofft, davor gefeit zu sein, doch allein der Blick auf seine Hände brachte die Erinnerung zurück.
»Vielleicht ist dies der falsche Zeitpunkt«, flüsterte er rau, »aber wir sollten keine Zeit verschwenden, die Zukunft zu planen ...«
Seine Sätze klangen nach einem Heiratsantrag. Wenigstens bot er sich nicht als heimlicher Liebhaber an. Zwar hätte sie sich dafür einen romantischeren Ort gewünscht als die Stube, in der ihr verstorbener Gatte aufgebahrt war, doch war es nicht wundervoll, dass Imhoff keine Zeit verlieren wollte? Einerlei, was zwischen ihnen gewesen war, er wollte ihre Freundschaft legalisieren, und allein das zählte. Christiane wurde schwindlig vor Aufregung – doch seltsamerweise jubilierte ihr Herz nicht. Es überwog das Gefühl von Betroffenheit.
»Georg, ich ...«, hob sie an.
Er unterbrach sie hastig: »Wir sollten über die Werke sprechen, die künftig in Eurer Druckerei hergestellt werden. HabtIhr schon alle Manuskripte sichten können, die mein Freund Severin aufbewahrt hatte?«
»Was?« Sie konnte nicht glauben, was sie eben gehört hatte. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Wie peinlich anzunehmen, er habe um ihre Hand anhalten wollen. Er war nur ein unmoralischer Verführer, der verheirateten Frauen nachstellte. Kein Ritter in goldener Rüstung, der keine Zeit verlieren wollte, sich der Dame seines Herzens zu offenbaren. Georg
Weitere Kostenlose Bücher