Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hüterin des Evangeliums

Die Hüterin des Evangeliums

Titel: Die Hüterin des Evangeliums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Galvani
Vom Netzwerk:
plötzlich abebbten und schließlich verstummten, sah sie zur Tür. Die Besucher hatten eine Gasse gebildet, so dass der Neuankömmling sowohl einen freien Blick auf die Totenlade wie auf die Witwe hatte.
    »Was ist hier los?«, brüllte Titus Meitinger.
    Niemand antwortete ihm – und er brauchte auch keineErklärung, die Szene war allzu klar. Er hob seinen Stock und richtete ihn mit der Spitze auf Christiane, als halte er einen Degen in der Hand. Seine Gestalt wirkte ebenso zerbrechlich wie entschlossen, seine Geste verzweifelt und bedrohlich.
    »Du hast ihn umgebracht!«, schrie er. »Du Schlampe hast ihn ruiniert und umgebracht!«
    Eine schallende Ohrfeige hätte nicht mehr schmerzen können. Die bitteren Worte hallten in Christianes Ohren wie das Echo eines Peitschenhiebs. Die Augen aller Anwesenden richteten sich auf sie. Sie achtete jedoch kaum darauf, war viel zu beschäftigt, ihren Körper unter Kontrolle zu halten und nicht zusammenzubrechen.
    Auf der Suche nach Halt griff sie hinter sich. Eine Faust schloss sich um ihre kalten Finger. Die Wärme der anderen Hand schenkte ihr Kraft.
    Dankbar wandte sie den Kopf. Sie dachte, es sei Martha, die sie auf diese Weise ihrer Unterstützung versicherte. Aber es war nicht ihre Cousine, die sie festhielt. Entsetzt stellte Christiane fest, dass sie die Hand eines fremden Mannes umfasste.
    Sie starrte Delius an und wusste nicht, was sie mehr schockierte – seine körperliche Nähe oder das, was Titus ihr vorwarf.

24
    Fassungslosigkeit brachte die Gesellschaft zum Schweigen. Es wurde jetzt wirklich totenstill. Doch Titus Meitinger begnügte sich nicht mit diesem Ende seines dramatischen Auftritts. Tränen strömten plötzlich über die Wangen des alten Mannes, er schien die Kontrolle über seine Gliedmaßen zu verlieren und sackte wie eine Marionette, deren Schnüre durchgeschnitten worden waren, in sich zusammen. DerStock fiel mit einem unangenehm lauten Geräusch zu Boden.
    Dann ging alles so schnell, dass Christiane erst später die einzelnen Bewegungen in ihrer Erinnerung zu sortieren vermochte. Conrad von Hallensleben war Titus offenbar zufällig auf dem Fuß gefolgt und stand daher direkt hinter ihm, als dieser zusammenbrach. Es gelang ihm, die Arme im richtigen Moment auszustrecken und den Alten unter den Achseln zu fassen, bevor dieser vollständig umkippen und möglicherweise sogar mit dem Kopf auf dem Sarg aufschlagen konnte.
    Mit von Hallenslebens Tatkraft kam wieder Leben in die Gesellschaft. Hilfreiche Hände betteten den Greis auf eine Liege, Christianes Mutter zerrte ein Riechfläschchen aus ihrem Beutel, Martha eilte hilfsbereit an die Seite ihrer Tante, und Imhoff schickte sich ebenfalls an, die allgemeine Aufmerksamkeit vom Geschehen auf sich zu ziehen. Niemand kümmerte sich anfangs um Christiane, die verschämt ihre Finger aus Wolfgang Delius’ Hand zog.
    Regungslos blieb sie im Erker, wie eine Zuschauerin am Rande des Geschehens. Und doch wurde sie langsam wieder zur Hauptperson. Verschämte Blicke trafen Christiane, und die Augen wandten sich rasch ab, wenn sie in die entsprechende Richtung sah. Niemand schien zu wagen, sie direkt anzuschauen. Gesenkte Stimmen erhoben sich, Fragen machten die Runde, leise Diskussionen zeugten von dem Aufruhr, den Titus’ Beschuldigung ausgelöst hatte. Seltsamerweise schien für jedermann festzustehen, dass der alte Mann die Wahrheit gesprochen hatte: Eine schöne, junge Witwe als Angeklagte zu sehen, entsprach wohl den geheimen Wünschen und Phantasien so manchen Mannes. Christiane fielen die lüsternen Zeugen der Teufelsaustreibung ein – und Panik überkam sie angesichts dessen, was ihr Schwiegervater angerichtet haben mochte.
    Wie kam Titus nur zu diesem unglaublichen Vorwurf? Ruiniert und umgebracht. Sie hatte weder das eine noch das andere getan. Und was hatte Titus eigentlich mit ruiniert gemeint? Severin war wohlhabend gewesen, sogar reich, immerhin war er mit einhundert Gulden in der Börse durch die Lande gezogen. Wahrscheinlich hatte sich der alte Mann in der Wahl seiner Worte getäuscht. Er hatte sicher nicht von finanziellem Ruin gesprochen, sondern vom Bankrott des Lebens.
    Denk nach!, forderte eine Stimme in ihrem Kopf, doch Christiane hatte das Gefühl, statt eines Hirns nur eine leere Masse in ihrem Kopf zu fühlen.
    »Geht es Euch gut?«
    »Was?« Ihre Blicke flogen zu Wolfgang Delius, der mit sorgenvoller Miene an ihrer Seite ausharrte. Für einen Moment hatte sie seine Anwesenheit vergessen

Weitere Kostenlose Bücher