Die Hüterin des Evangeliums
wer der Auftraggeber für die Druckwerke gewesen sein könnte. Ich nehme an, Ihr geht davon aus, dass Severin Meitinger nicht aus eigenem Ansporn heraus handelte.«
»Ausgeschlossen. Er besaß auch gar nicht die Kontakte, um derartige Schriften für einen guten Preis zu verkaufen. Um Unruhe zu stiften, muss man bedeutende Persönlichkeiten kennen, welche die Schriften ernst genug nehmen.«
Delius schüttelte den Kopf. Dankbar, von Hallensleben endlich widersprechen zu dürfen, hob er an: »Es hätte für genug Aufsehen gesorgt, wenn diese Texte irgendwo auf der Frankfurter Buchmesse aufgetaucht wären. Es bedarf keiner großartigen Bekanntheit, um mit einem Manuskript dieses Inhalts einen Skandal auszulösen. Möglicherweise gab es jedoch ein Problem – und der Druck wurde nicht pünktlich zur Ostermesse fertig.«
»Vielleicht, weil der Handschriftenfälscher zu diesem Zeitpunktbereits nicht mehr unter uns weilte«, sinnierte Ditmold. Er gab seinem Freund unmerklich ein Zeichen, da er vor dem Bibliothekar nicht über Sebastian Rehms Briefe sprechen wollte – und schon gar nicht über dessen Verdacht, vergiftet worden zu sein. Stattdessen fragte er: »Habt Ihr zufällig von einem Verschwörerkreis in Augsburg gehört, dem Ihr die Fälschungen und eine Mordserie zutrauen würdet?«
Conrad von Hallensleben wand sich. Sein Gesicht rötete sich, seine Hände strichen fahrig über seine Oberschenkel. Ganz offensichtlich war ihm nicht wohl dabei, sein Wissen preiszugeben. Schließlich ergab er sich Ditmolds durchdringendem Blick. »In gewissen Kreisen ist die Rede von einer neuen Sodalitas litteraria ... Habt Ihr von den früheren Vereinigungen gehört?«
Obwohl die Frage an Ditmold gerichtet war, fühlte sich Delius zu einer Antwort berufen: »Das waren illustre Bruderschaften oder Freundeskreise, deren Mitglieder zu den klügsten Köpfen deutscher Zunge gehörten. Die Idee zur Gründung der Solidaritätsgemeinschaft ging auf eine Tradition der Antike und Platos Philosophenschule zurück. Es ging darum, die Werke und Ideen der Gefährten, zumeist Dichter, Juristen und Theologen, zu verbreiten. Meines Wissens lösten sich die Vereine im Zuge der Reformation und der Kirchenspaltung vor dreißig oder vierzig Jahren auf.«
»Die Sodalitas litteraria Augustana war die wissenschaftliche Gesellschaft unserer Stadt. Besondere Verdienste erwarben sich die Mitglieder durch die Herausgabe von Geschichtsquellen, die erstmals in deutscher Sprache erschienen. Seinerzeit – es dürfte etwa Anfang dieses Jahrhunderts gewesen sein – waren auch viele Druckermeister Mitglieder des Kreises. Seht Ihr die Verbindung zum Heute, Herr Rat?«
»Mir scheint, sie ist offensichtlich.«
»Wir sind zwar nicht von hier, doch es ist uns bekannt, dassKonrad Peutinger, der Berater von Kaiser Maximilian und Kaiser Karl, Begründer der Augsburger Gemeinschaft war«, fiel Delius ungehalten ein. Er kam sich vor wie ein Schuljunge bei einer Prüfung, was ihm missfiel. »Wer mag sich anmaßen, heute die Rolle des großartigen Juristen und Humanisten zu übernehmen und eine ähnliche Organisation aufzubauen?«
»Das kann ich Euch nicht sagen, Herr Delius. Es kursieren allerdings Gerüchte, dass es sich um Täufer handeln soll ...«
»Wurden diese Menschen hierzulande denn nicht verfolgt?«, unterbrach der Assessor entsetzt. »Wer eine Wiedertaufe vornimmt oder sich selbst der Erwachsenentaufe unterzieht, wird mit der Todesstrafe belangt. Das ist seit dem Reichstag zu Speyer, also seit rund fünfundzwanzig Jahren, ehernes Gesetz.«
»Gewiss, gewiss, in Augsburg wurden diese in die Irre geleiteten Männer und Frauen ebenso verfolgt wie anderswo, aber wohl nicht ernsthaft ausgerottet, denn es geht die Rede, es lebten noch einige Glaubensbrüder in den Mauern der Stadt ...«
»Wollt Ihr damit sagen, dass offen das Gesetz gebrochen wurde?«, brauste Ditmold auf. »Amtspersonen, die nicht bereit sind, den Anordnungen zu folgen, müssen selbst mit empfindlichen Strafen rechnen und fallen darüber hinaus beim Kaiser in Ungnade. Hat denn in dieser Stadt niemand den gebührenden Respekt?«
»Das wollte ich nicht sagen«, jammerte von Hallensleben, plötzlich wieder sehr kleinlaut und bekümmert, diesmal jedoch augenscheinlich eher in eigener Sache denn aus Loyalität zu einem toten Freund. »Jedes Ratsmitglied zu Augsburg ist ein gehorsamer Untertan des Kaisers. Daran gibt es keinen Zweifel.«
Ditmold stieß die angehaltene Luft aus, ansonsten wartete er
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