Die Hüterin des Evangeliums
herausragenden Bildung wie auch seiner gehobenen Stellung bewusst war. Er war ihm ein wenig überheblich erschienen. Nun aber wirkte von Hallensleben kleiner, schmächtiger, verbittert und zutiefst verunsichert auf ihn. Seltsam, sinnierte Delius, gerade in seiner gewohnten Umgebung sollte der Bibliothekar eigentlich eher über sich hinauswachsen.
Von Hallensleben reichte Ditmold die Mappe, dann hob er den Saum seines Talars und setzte sich auf eine Bank. Stumm wartete er auf die Reaktion des Assessors.
Es herrschte bedrückendes Schweigen zwischen den drei Männern. Nur deren Atem und das Rascheln des Papierstoffs unterbrachen die Stille, als Ditmold die Seiten umschlug. Dumpf drangen von draußen Straßengeräusche in die Bibliothek, die zuvor durch die Stimmen übertönt und nicht aufgefallen waren. Irgendwo erklang eine Fanfare.
Nachdem Ditmold den Text weitgehend gelesen hatte, übergab er das Werk seinem Freund. »Ich glaube«, sagte er langsam, »dies ist, wonach du suchst.«
Delius brauchte nur einen Blick auf das Manuskript zu werfen, um zu wissen, dass Ditmold recht hatte. Konzentriert las er die wenigen Seiten. »Der Inhalt ist nicht überraschend, etwas in der Art hatte ich erwartet. Mich verwundert eher, dass dies nicht das Original zu sein scheint«, meinte er nach einer Weile.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich denke, dass es sich um einen Probedruck handelt. Der würde auch das Siegel erklären. Niemand, der bei Verstand ist, versieht eine solche Fälschung mit dem eigenen Kolophon.«
»Das stimmt«, gab von Hallensleben zu. »Dennoch ist ein Probedruck nicht wahrscheinlich, denn immerhin war ein Handelsreisender in den Besitz des Manuskripts gelangt.«
»Das kann durch einen dummen Zufall geschehen sein«,behauptete der Verleger lebhaft, nunmehr ganz in seinem Metier. »Vielleicht gerieten die Schriften zwischen andere Papiere, die für den Versand bereitlagen. Es hat niemand darauf geachtet, und schon waren sie im Umlauf.«
»Ihr wart ein Freund Severin Meitingers, Herr von Hallensleben«, erinnerte Bernhard Ditmold. »Könnt Ihr Euch vorstellen, warum sich der Druckermeister zu einer solchen Sache hat hinreißen lassen?«
Der Angesprochene zögerte. Er rieb seine Hände im Schoß, senkte den Blick. Schließlich hob er die Lider und erwiderte bekümmert: »Hättet Ihr mich vor einer Woche gefragt, wäre ich um die Antwort verlegen gewesen. Heute kann ich Euch sagen, dass Meitinger hohe Schulden plagten. Ich bin sicher, er hat sich aus Geldnot zum Druck dieser Werke überreden lassen.«
»Dann wisst Ihr es also auch«, stellte der Assessor fest. »Ich habe herausgefunden, dass Titus Meitinger recht hatte.«
»Ja, mit jedem Wort. Nun ja, vielleicht nicht darin, dass Christiane Meitinger ihren Mann umgebracht hat, aber wer kann das schon sagen, nicht wahr? Sie ist jung und dazu eine launische Person, ein Frauenzimmer ohne Manieren, die ihren Mund nicht halten kann und sich einmischt, wo es nicht erwünscht ist ...«
Während von Hallensleben sprach, hinderte Ditmold seinen Freund mit einer kleinen Handbewegung an einem Protest. Schließlich unterbrach der Assessor den Bibliothekar: »Christiane Meitinger ist ganz sicher nicht die Mörderin, das könnt Ihr ausschließen, und ihre weiteren Charaktereigenschaften stehen hier nicht zur Debatte. Berichtet lieber von den Tatsachen. Wie verhält es sich Eurer Ansicht nach mit den Schulden des Toten?«
Von Hallensleben räusperte sich, bevor er fortfuhr: »Die Lage ist schlimm, sehr schlimm sogar. Ich habe mich bei derFugger-Bank erkundigt. Ohne unbescheiden klingen zu wollen, muss ich zugeben, dass es einzig meiner Fürsprache zu verdanken ist, dass die Schuldeneintreiber die Meitingerin und den alten Titus noch nicht aus dem Haus geworfen haben. Viel Zeit wird den beiden jedoch nicht bleiben, irgendwann müssen sie sich mit der Situation abfinden.«
»Was heißt das?«, fragte Delius scharf.
»Die Meitingerin wird über kurz oder lang ausziehen müssen. Vielleicht geht sie zu ihren Eltern zurück. Möglicherweise findet sie auch einen Ehemann. Hübsch genug ist sie ja. Was mit dem armen alten Titus geschieht, kann ich Euch nicht sagen. Vielleicht hat er vorgesorgt und ein Leibgedinge für sich gekauft.«
»Nun, das sollte nicht unsere Sorge sein«, bemerkte Ditmold und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Delius die Zähne zusammenpresste und sein Kiefer zu mahlen begann. »Mich interessiert deutlich mehr als die Zukunft der Meitingers,
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