Die Hüterin des Evangeliums
Wert auf die Anwesenheit des wenig beliebten Gesellen gelegt hätte. Aber sie brauchte ihn – wie sie alle anderen Männer in diesem Haus auf die eine oder andere Weise gebraucht hatte. Himmel, dachte sie verzweifelt, welcher Teufel geistert durch diese Räume? Severin war ermordet worden wie sein Lehrling, der Geselle ebenso verschwunden wie Titus.
Zweifellos hatten die Tragödien etwas mit den Papieren im Weinkeller zu tun, davon war Christiane ebenso überzeugt wie ihr nächtlicher Besucher Delius. Es lag an ihr, den Schlüssel zur Wahrheit zu finden. Sie würde noch einmal Zeile für Zeile der Pamphlete lesen müssen auf der Suche nach einem Hinweis auf den Täter. Doch sie scheute sich, die Manuskripte bei Tageslicht und in Anwesenheit der Magd in die Schreibstube zu holen. Nicht auszudenken, wenn die Alte, von Neugier getrieben, herausfand, welches Geheimnis Christiane hütete. Sieerwartete zwar nicht, dass Severins dienstbarer Geist des Lesens mächtig war, aber auf eine mögliche Entdeckung wollte sie es nicht ankommen lassen – auch nicht auf einen Überraschungsbesucher, der sie in der Lektüre unterbrechen würde.
Die Hände ringend wanderte Christiane ziellos durch ihr Haus. Konnte es Karl gewesen sein? Warum war er fort, wenn ihn keine Schuld plagte? Karl kam – warum auch immer – als Mörder durchaus in Betracht, befand Christiane. Er könnte immerhin für die Druckwerke verantwortlich sein, die sie hinter Meitingers Rücken hergestellt haben. Zwar war nicht so recht vorstellbar, wie Sebastian Rehm dazu passte, aber die Verbindung von Meister und Geselle war klar: Severin hatte herausgefunden, was Karl heimlich trieb, diesen zur Rede gestellt, Karl hatte ihm im Wald aufgelauert, und es war zum Streit gekommen mit seinem schrecklichen Ende. Christiane konnte sich nicht erinnern, ob Karl in jener Nacht ausgegangen war, doch das spielte für sie keine Rolle. Denn auch Antons Schicksal passte in ihr Gedankengerüst: Der Lehrling hatte herausgefunden, was Karl trieb, und war aus demselben Grunde gestorben wie sein Meister. Karls Flucht unmittelbar nach dem Auffinden der Leiche sprach dafür.
Christianes Überlegungen entlasteten Titus, was Druck von ihrer Seele nahm. Nur, wohin war der alte Mann verschwunden? Und warum war er überhaupt gegangen, wenn nicht aus demselben Grund wie Karl? Hatten Severins Vater und der Geselle gemeinsame Sache gemacht? Diese Möglichkeit überstieg Christianes Vorstellungskraft, dennoch wollte sie nicht ganz davon ablassen.
Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie sich plötzlich vor der Tür von Titus’ Schlafkammer wieder. Sie hatte diesen Raum nie betreten, nur die Magd durfte gelegentlich zum Saubermachen hinein, ansonsten wollte der alte Mann seine »Ruhe vor Weibsbildern haben«, wie er mehrfach lauthals verkündethatte. Bislang hatte Christiane niemals besondere Neugier auf Titus’ Reich verspürt – das war nun anders. Es gehörte sich nicht, ganz gewiss, aber es ging um mehrere Mordfälle – und deshalb würde zumindest Gott ihr verzeihen, wenn sie das Verbot missachtete. Schlimmer noch, Christiane drückte die Klinke in dem Bewusstsein hinunter, das Zimmer nach möglichen Hinweisen auf Titus’ Mittäterschaft und seinen Aufenthaltsort durchsuchen zu wollen.
Titus Meitingers Schlafkammer war ein erstaunlich kleiner Raum, der durch die Dachschrägen noch enger wirkte und sehr sparsam eingerichtet war: Eine Truhe, eine Liege mit Strohmatratze, ein Stuhl und ein Tisch am Fenster, dessen Oberfläche matt und hell vom Scheuern und der mit Tintenflecken und Wachsspritzern überzogen war, was auf eine rege Schreibtätigkeit schließen ließ. Die Wand über dem Bett zierte ein schlichtes Holzkreuz, ansonsten fehlte dekorativer Schmuck, und selbst die Möbel waren einfach zusammengezimmert, der Schreiner hatte auf jegliche Zierde verzichtet.
Verwundert sah sich Christiane um. Zum ersten Mal begriff sie, warum sich ihr Schwiegervater über die vielen Geschenke ärgerte, die Severin ihr gemacht hatte. Für einen alten Mann wie ihn, der offensichtlich in größter Bescheidenheit lebte, war jedes Geschmeide unnützer Tand. Nach diesem ersten Eindruck war die Behaglichkeit der Wohnräume zwar nicht unbedingt erklärlich, denn sie hatte angenommen, das Haus sei bereits von Titus Meitinger und seiner verstorbenen Frau eingerichtet worden, aber wahrscheinlich hatte sie sich geirrt, und es war die Hand von Severins erster Gemahlin am Werke gewesen.
Die Truhe war
Weitere Kostenlose Bücher