Die Hüterin des Evangeliums
Natürlich hätte er nicht ohne Einladung in ihr Haus eindringen dürfen – und schon gar nicht in ihre Schlafkammer. Aber er wusste, dass er es jederzeit wieder tun würde, wenn er noch einmal in derselben Situation wäre, was Gott verhüten mochte.
Die Geschichte von Sebastian Rehm war schlimm, das Ende des Schriftstellers berührte ihn. Inzwischen war er sogar überzeugt davon, dass Rehm ein sympathischer Mensch gewesen war; seine reizende Frau und der kleine Johannes zeugten davon. Dennoch ging seine Trauer nicht tief, da er dem Toten niemals begegnet war. Der eingeschlagene Schädel von Severin Meitinger hatte ihn stärker getroffen, aber es hatte sich um einen erwachsenen Mann gehandelt, der seine besten Jahre bereits erlebt hatte.
Anders war der Anblick des Druckerlehrlings gewesen, dessen Jugend von brutaler Hand ausgelöscht worden war: Rund um die Lider hatte sich ein Flecken-Kranz in der Farbe eines Bischofsgewandes gebildet, die Male wiederholten sich am Hals; der Körper des Halbwüchsigen erschien ihm schwammig, war aufgedunsen und gleichzeitig ausgedörrt wie eine getrocknete Pflaume. Er war dankbar, dass ein fürsorglicher Mensch dem Toten bereits die Augen geschlossen hatte, da er sich vor nichts so sehr fürchtete wie dem, was im Blick des Jungen stand.
Die Bilder verfolgten ihn unablässig. Als er vollkommen kopflos zu Meitingers Haus gestürmt war ebenso wie auf seinem Weg zurück in das Gasthaus und auch in den wenigen verbliebenen Stunden der Nacht. Am Morgen hatte er den Gedanken an Antons stummen Vorwurf nicht auslöschenkönnen, den er zwar nicht direkt gesehen hatte, aber zumindest in der Seele des Toten vermutete. Vielleicht lag der Unterschied in seinen Empfindungen darin, dass Anton der einzige der drei Ermordeten war, den er zu Lebzeiten gekannt hatte. Seine Begegnung an Severin Meitingers Grab war flüchtig gewesen, er hatte auf den Jungen kaum geachtet, und doch hatte er eine vage Vorstellung von ihm. Auch deshalb sprach er jetzt, als er mit Ditmold auf dem Weg zum Weinmarkt und dem Fugger-Palast war, von nichts anderem als seiner Schuld.
»Ich fühle mich für den Tod des Lehrlings verantwortlich. Wenn ich bereits nach dem ersten oder zweiten Brief auf Sebastian Rehm gehört hätte und früher nach Augsburg gereist wäre, hätten wir den Mörder dingfest machen können, und Anton wäre nichts passiert.«
Ditmold schüttelte entnervt den Kopf. »Zum ersten Mal in deinem Leben bist du mit einer Geschichte wie dieser konfrontiert – und schon übertreibst du ... Gott zum Gruße«, er nickte den Wachen am Adlertor des Fugger-Hauses zu, die ihn erkannten und passieren ließen.
Während er mit Delius unter den italienischen Arkaden im Hof weiterging, fügte er hinzu: »Niemand kann vorhersagen, was der Täter gemacht hätte und was nicht. Vielleicht hätte er dich umgebracht, wenn du früher nach Augsburg gekommen wärst. Würdest du dich dann besser fühlen?«
Delius schnappte nach Luft. Die dreiste Frage seines Freundes machte ihn sprachlos. Schweigend trottete er in nunmehr erheblich langsamerem Tempo neben Ditmold her. Allerdings war die Gelegenheit für eine ernsthafte Unterhaltung denkbar ungünstig, denn jenseits des wuchtigen Tores herrschte so unmittelbar vor Beginn einer Sitzung des Reichstags reges Treiben: Wagen und Sänften waren unterwegs, wurden von Rittern und Söldnern flankiert, Reiter zu Pferde drängten sich an Fuhrwerken mit irgendwelchen Lieferungen vorbei, dazwischenversuchten Fußgänger wie die beiden Freunde ihren Weg zu finden, und Bedienstete eilten herbei, um ihren Herren oder deren Besuchern behilflich zu sein. Es herrschte ein Durcheinander der verschiedensten Dialekte und Farben. Bei einem seiner früheren Besuche im Palast Anton Fuggers hatte Delius gehört, dass neunundvierzig katholische Bischöfe oder Kardinäle und sechsundvierzig weltliche Fürsten dem Fürstenrat angehörten, im Kurfürstenkollegium versammelten sich darüber hinaus elf Mitglieder, von denen drei geistlichen Standes waren, dazu kamen der König und sein Gefolge. Mit den zur jeweiligen Partei gehörenden Schreibern und Beratern war dies eine stattliche Anzahl vornehmer Herrschaften, auch wenn ein Großteil der katholischen Kirchenvertreter wieder in Rom zur neuen Papstwahl weilte. Hundertsieben Meinungen!, sinnierte Delius, kein Wunder, dass die Verhandlungen stockten.
»Also gut«, sagte er schließlich zu Ditmold, »lassen wir die Mördersuche ruhen und konzentrieren uns auf
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