Die Hüterin des Evangeliums
glücklicherweise nicht verschlossen, und Christiane begann, in Titus’ Sachen nach einem Hinweis zu suchen. Der süßliche Geruch von Moder, Urin und dem Schweißeines alten Menschen stieg von seinen Kleidungsstücken auf. Sie unterdrückte den Wunsch, alles zusammenzuraffen und in die Wäsche zu tun. Zwischen den Hemden lag eine Hieronymus-Bibel, offenbar eine alte Ausgabe, die viel benutzt wurde, denn der Ledereinband war abgeschabt und die Seiten waren manchmal brüchig, häufig zerknittert und teilweise sogar eingerissen. Ein derart zerlesenes Buch in Titus’ Besitz zu finden, war wenig überraschend. Christiane legte es ohne weitere Beachtung fort.
Auf dem Tisch lagen ein alter Schreibkiel, dessen Federn so zerbissen waren wie die Flügel eines Vogels nach dem Angriff einer Katze. Kein Messer zum Anspitzen, kein weiteres Schreibgerät, kein Papier war da, nur ein Tintenfass, dessen Inhalt eingetrocknet war. Titus hatte sich also schon lange keine Notizen mehr gemacht und auch kein Tagebuch geführt, jedenfalls nicht an diesem Ort.
Es gab keinen anderen Platz, wo sie sich umsehen konnte. Seufzend ließ sich Christiane auf dem Lager nieder. Sie hatte ein Sakrileg gebrochen und war in Titus’ Schlafkammer eingedrungen, hatte in seinen persönlichen Sachen gewühlt – und nichts weiter erreicht, als sich unendlich schlecht zu fühlen. Es war respektlos von ihr gewesen, sein Verbot zu missachten. Nun, dachte sie mutlos, immerhin war es für einen guten Zweck. Der Himmel mochte wissen, wo sich der alte Mann gerade aufhielt. Vielleicht schwebte er in Gefahr, und deshalb war es vernünftig gewesen, alles zu unternehmen, um ihn zu retten.
Hier gab es nichts mehr zu tun. Sie sollte gehen, bevor sie von der Magd entdeckt wurde. Weiter von schlechtem Gewissen getrieben, sprang sie energisch auf. Dabei verfing sich ein Strohbüschel in ihrem Rock. Durch die rasche Bewegung zerrte sie die Matte ein Stück weit mit sich. Ein Rascheln und ein leises, dumpfes Geräusch folgten.
Verärgert über ihre eigene Unachtsamkeit löste sie den Stoff unwillig aus den Halmen, so dass ein kleines Loch in ihr gutes Trauerkleid gerissen wurde, was sie jedoch nicht weiter beachtete. Dann schob sie die Matratze zurück an ihren Platz – was ihr nicht gelang, denn zwischen Lager und Wand klemmte ein Gegenstand.
Christiane bückte sich, ihre Hände griffen beherzt zu und förderten einen Beutel zutage, wie ihn Pilgerreisende benutzten: Die Tasche war aus Leder, wenn auch aus einem billigen, aus Altersgründen wohl abgewetzten und brüchigen Material, und sie war offen, ein typisches Symbol für Barmherzigkeit und die Freizügigkeit im Geben und Nehmen.
Ihr schlechtes Gewissen war verdrängt. Jeden Gedanken daran verscheuchend, öffnete Christiane den Beutel. Ihre Finger fühlten einen rauen Stoff. Die alten Nähte des für den Inhalt viel zu kleinen Sacks knirschten, als würden sie jeden Moment reißen. Doch Christiane gab nicht auf – und schließlich lag ein Gewand vor ihr auf Titus Meitingers Lager ausgebreitet. Sie hatte eine Pelerine erwartet und einen breitkrempigen, runden Hut, die Tracht der Leute, die zu den Heiligtümern wanderten. Doch stattdessen lagen ein schlichter brauner Umhang und ein weißer Mantel vor ihr, die Mozetta eines Priesters, deren Schmuck eine Jakobsmuschel war.
»Bei allen Heiligen«, entfuhr es ihr: »Warum versteckt der alte Titus des Habit eines Geistlichen unter seinem Bett?«
Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Die Einrichtung in der Schlafkammer ihres Schwiegervaters war der einer Klosterzelle nicht unähnlich.
»Seltsam«, murmelte Christiane. Rasch biss sie sich auf die Zunge, erschrocken über den Klang ihrer eigenen Stimme.
Doch die stille Frage nach dem Warum ließ sie nicht los. Nachdenklich stand sie in der kleinen Klause, die Kleidungeines Mönchs an die Brust gepresst, welcher der Farbe nach entweder zum Orden der Karmeliter oder der Franziskaner gehört hatte. Offensichtlich war Titus mit diesem Mann eng verbunden gewesen, sonst hätte er dessen Sachen nicht aufbewahrt. Es passte zu seiner streng katholischen Haltung, einen Freund im Kloster besessen zu haben und sich an dessen bescheidener Lebensweise zu orientieren; lediglich auf die Enthaltsamkeit hatte Severins Vater verzichtet. Wer aber mochte so wichtig für ihn gewesen sein? Und warum hatte sie noch nie von einem Priester in der Familie gehört?
Die Mozetta mit dem Zeichen einer Pilgerreise nach Santiago de
Weitere Kostenlose Bücher