Die Hüterin des Schattenbergs
eines langen T unnels kam es auf sie zu. Schnell und unaufhaltsam. Es vertrieb die Dunkelheit, wurde heller und greller und nahm Jemina schließlich sanft in sich auf. Sie spürte ein überwältigendes Glücksgefühl, wie sie es nie zuvor empfunden hatte und wusste, der Kreis hatte sich geschlossen. Ihre Reise näherte sich dem Ende. Nach einer Zeit, die in dieser Sphäre keine Bedeutung hatte, wurde das Leuchten schwächer und Jemina konnte wieder etwas sehen.
Der Fels war fort. Sie stand in einer gewaltigen, von unzähligen Säulen getragenen Halle, in der sich viele menschliche Gestalten wie schwebend bewegten. Sie schaute an sich herunter und sah, dass auch sie ihre menschliche Gestalt zurückerhalten hatte, nur dass sie jetzt dasselbe fließende, weiß durchscheinende Kleid trug, wie all die anderen Frauen, die ihr begegneten.
Die Halle der A hnen! Jemina erschauderte. Sie konnte sich nicht satt sehen an der Pracht, von der sie umgeben war. Die Säulen aus hellem Stein stützten eine gewölbte Decke, die sich so hoch über ihr wölbte, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um die kunstvollen Fresken betrachten zu können, die von Meisterhand dort aufgetragen worden waren. In der Mitte der Halle war ein Blumengarten mit einem Springbrunnen angelegt und überall in den W änden sah sie kunstvoll gestaltete T üren, die in unbekannte Reiche führten.
Voller Staunen wollte sie die Halle erkunden, aber als sie einen Schritt nach vorn machte, wurde sie jäh zurückgerissen, ganz so als ob etwas oder jemand sie festhielt. V erwundert hob sie die Hand und entdeckte dort ein haarfeines silbernes Band, dessen Ende um ihr Handgelenk geschlungen war. Das andere Ende war nicht zu sehen. Sie drehte sich um und sah, dass das Band sich in dem Leuchten eines riesigen T ores aus reinem Licht verlor, das sich hinter ihr auftat.
Was ist das für ein seltsames Ding? Jemina schaute die anderen an, aber keine der Gestalten trug so ein Band. Ärgerlich, weil das Band sie aufhielt, wollte sie es abstreifen, aber was sie auch versuchte, misslang. Es schien mit ihrem Handgelenk verwachsen zu sein, als sei es ein T eil von ihr. W ütend begann sie daran zu ziehen und zu zerren – wieder ohne Erfolg.
»Das solltest du nicht tun. Nicht wenige hier wären dankbar dafür.«
Diese Stimme! Jemina zuckte zusammen und wirbelte herum. »Efta?« Sie konnte nicht glauben, wer da hinter ihr stand. »Efta bist du es wirklich?«
»So wirklich, wie es in dieser heiligen Halle möglich ist.« Efta nickte.
Jemina wurde vor Glück die Kehle eng. »Oh Efta!« stieß sie hervor. »Ich habe dich so vermisst.«
»Ich habe dich auch vermisst, mein Kind.« Efta lächelte.
»Wie hast du mich gefunden?«, wollte Jemina wissen.
»Wir spüren, wenn Menschen eintreffen, die uns nahe standen«, erklärte Efta. »Dann kommen wir, um sie zu begrüßen, denn viele sind verwirrt oder haben A ngst.«
»Dann hast du mich noch nicht vergessen?«
»Vergessen? Nein.« Efta lachte. »Ich gebe zu, dass die meisten Erinnerungen an mein früheres Leben bereits verschwunden sind, aber die Bande der Liebe und der Freundschaft überdauern. Sie sind stärker als der T od.« Sie zwinkerte Jemina zu und deutete auf das Band. »Manchmal sind sie sogar so stark, dass sie den T od überwinden können.« Fast wehmütig fügte sie hinzu: »Wer immer das Ende dieses Bandes hält, muss dich sehr lieben.«
»Das Band führt zu Rik.« Plötzlich erinnerte sich Jemina wieder. »Er hält meine Hand.« Die W orte kamen ihr wie von selbst über die Lippen und obwohl sie sich gerade noch über das Band geärgert hatte, bewirkten sie in ihr eine ungeheure V eränderung. Es war wie ein Erwachen: Rik, die Phiole, das Gift, das Buch des Lebens … die Hüter, die Gabe … Mit einem Schlag waren alle Erinnerungen wieder da, die der T od und das, was danach gefolgt war, vorrübergehend in ihr ausgelöscht hatten. Gleichzeitig wurde ihr auch die Dringlichkeit ihrer A ufgabe wieder bewusst. Sie musste rasch handeln, sonst war alles verloren.
»Ich bin nicht tot, Efta«. Nur mühsam unterdrückte sie die Eile in der Stimme. »Ich bin hier, weil ich dich suche. Dich und die anderen Hüter.« Sie machte eine Pause, aber da Efta nichts sagte, fuhr sie einfach fort: »Mein A nliegen ist von größter W ichtigkeit, denn als ihr im Nebelsee ertrunken seid, habt ihr W issen von unschätzbarem W ert mit in den T od genommen. Ich spreche von der Gabe, die mir und den anderen Eleven als euren
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