Die Hüterin des Schattenbergs
nun aber sagte Galdez fast genau das gleiche.
»Ein Unreiner?«, fragte sie. »Wie ist das möglich? Er trägt das Mal der Reinheit.«
»Wie es geschehen ist, kann ich dir auch nicht sagen«, antwortete Galdez. »Einst war er rein, das ist wahr. A ber dann begann er, sich zu verändern. Er hat schon immer viele seltsame Fragen gestellt, aber mit dem Einsetzen der Mannesreife veränderte er sich zu seinem Nachteil. Die weiße Seele, so schien mir, wurde nach und nach grau, während er alles hinterfragte und sich gegen die vorherrschende Ordnung auflehnte.« Galdez seufzte. »Es war, als ob ob die dunkle Seite langsam seine Seele unterwanderte. Die Spaltung seines Selbst war wohl nicht nachhaltig genug. Ich hätte ihn an die Magier ausliefern müssen, aber er war mir ans Herz gewachsen. So habe ich ihn ermahnt, zu schweigen und seine Gedanken und Gefühle vor anderen zu verbergen, damit die Magier nicht auf ihn aufmerksam wurden. Obwohl ich seine aufrührerischen Gedanken nicht guthieß, habe ich ihn beschützt, denn er ist ein guter Junge, mit einem wachen V erstand und einem großen, mutigen Herz. Ich habe ihn geliebt wie einen Sohn.«
»Darum durfte er die Prüfung zum Novizen nicht ablegen.« Endlich verstand Jemina, warum Galdez Rik die Nacht auf Doh-Jamal verweigert hatte und noch einen zweiten Elev in seine Dienste nehmen wollte.
Galdez nickte. »Den Nerbuks hätte Rik nichts vormachen können. Sie hätten seine dunkle Seite sofort bemerkt und ihn zu einem der ihren gemacht. Er hätte die Insel niemals wieder verlassen.«
»Er wäre ein Nerbuk geworden!« Jemina erschauderte. »Weiß Rik, wie es um ihn bestellt ist?«
»Nein.« Galdez schüttelte den Kopf. »Ich wollte es ihm auf dem Heimweg vom Nebelsee sagen, aber ich kam nicht mehr dazu.«
»Dann werde ich es ihm sagen, wenn ich wieder zurück bin. Es ist wichtig, dass er die W ahrheit erfährt.«
»Ja, das ist es.« Galdez wirkte, als ob sie ihm eine schwere Last von den Schultern genommen hätte. »Und noch etwas richte ihm bitte von mir aus: Sag ihm, dass er mit allem recht hat. Nicht er war der Blinde, sondern ich – so wie alle Reinen in Selketien blind sind. Ich hoffe, er kann mir verzeihen, dass ich ihm all die Jahre etwas anderes erzählt und ihn für seine A nsichten gemaßregelt habe.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du wirst es verstehen. Spätestens, wenn du zurückkehrst«, erwiderte Galdez vielsagend. »Und Rik wird es auch verstehen.« Ein Schatten huschte über sein Gesicht und er sah traurig aus. »Ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Ich gäbe vieles darum, könnte ich nur einen kleinen T eil davon ungeschehen machen. Ich wünschte, ich hätte mich nicht zum Handlanger derer gemacht, die Orekhs’ A ndenken mit Füßen treten.« Er seufzte betrübt. »Rik hatte recht. Es ist ein schlimmes V ergehen, die Menschen ihrer dunklen Seite zu berauben. Natürlich hat Orekh es nur gut gemeint, aber er hat den Menschen dabei so viel mehr genommen als nur Rache- und Mordgelüste. Mit der Spaltung der Seele haben sie auch ihren Ehrgeiz und ihren Selbstbehauptungsdrang verloren. Das V olk von Selketien lebt seit vielen Generationen wie eine Herde Schafe unter der Knechtschaft der Magier. Das war der zweite Fehler, den Orekh damals beging: Indem er die Kaste der Magier von der Spaltung verschonte, legte er selbst den Grundstein dafür, dass sein wohlmeinender Zauber einst so finstere Blüten tragen würde.«
»Das hätte auch Rik sagen können.«
»Ich weiß.« Galdez nickte. »Er ist ein Unreiner und als solcher in der Lage, die Dinge klar zu erkennen. Er ist klüger, als ich es jemals war, denn als Reiner fehlte mir ein wichtiger T eil meines Selbst. Erst der T od, der mich wieder mit meiner dunklen Seite vereinte, bescherte mir diese Erkenntnis, aber da war es zu spät.«
»Dann ist es besser, wenn die Schatten wieder frei sind?«, fragte Jemina, die nicht recht wusste, worauf Galdez hinauswollte.
»Es ist das Beste, die Menschen so durch das Leben gehen zu lassen, wie die Götter es bestimmt haben«, erwiderte Galdez. »Mit all ihren Schwächen und Fehlern. Orekh ist zu weit gegangen. A uch wenn es im Glauben geschah, Gutes zu tun, hat er sich doch angemaßt, in die Schöpfung einzugreifen und damit großes Unheil angerichtet.« Er trat vor das leuchtende T or, durch das Jemina die Halle der A hnen betreten hatte, hob die Hand und berührte das Licht an einer Stelle sanft mit dem Finger.
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