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Die Hüterin des Schattenbergs

Die Hüterin des Schattenbergs

Titel: Die Hüterin des Schattenbergs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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»Sieh hin und urteile selbst.«

6
    D as Maisfeld war fast abgeerntet. Die langen, dürren Halme mit den scharfkantigen Blättern bedeckten den schlammigen, von Hunderten nackten Füßen aufgewühlten Boden wie ein T eppich. Kinder liefen darauf umher; die Füße notdürftig mit schmutzigen Lappen umwickelt, suchten sie den Boden nach Kolben ab, die bei der Ernte übersehen worden waren. W eiter hinten schnitten Frauen und Männer den letzten Mais, befreiten die goldgelben Kolben von ihren Blättern und verstauten sie in Säcken, die von den Männern zu einem schon schwer beladenen Ochsenkarren getragen wurden.
    »Es ist eine gute Ernte in diesem Jahr«, hörte Jemina einen der Bauern sagen.
    »Ja, der Sommer meinte es gut mit uns.« Die Frau an seiner Seite lachte und gab ihm einen Kuss. »In diesem Winter werden wir kein Kind zu Grabe tragen müssen.«
    Sie luden die letzten Maissäcke auf. Die Kinder sprangen auf den W agen, der sich langsam in Bewegung setzte, während die Erwachsenen plaudernd nebenher gingen. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Hufschlag ertönte. Eine Gruppe Reiter, die Jemina sofort als Gardisten der Magier erkannte, preschte aus dem nahen W ald heran und versperrte den Bauern den W eg.
    »Ihr habt eine gute Ernte eingebracht, wie ich sehe.« Der A nführer der Reiter schwang sich vom Pferd und kletterte auf die Ladefläche des Karrens. Dort öffnete er einen Sack nach dem anderen, nahm prüfend den einen oder anderen Maiskolben heraus und nickte zufrieden. »Das ist hervorragender Mais«, sagte er zu dem Bauern. »Den nehmen wir mit.« Mit herrischen Gesten scheuchte er die Kinder und den Bauern vom W agen. »Du hast uns gute Dienste geleistet. Der Dank der Magier ist dir gewiss«, rief der Gardist dem Bauern zu. Dann schlug er mit den Zügeln auf die Ochsen ein, die sich schnaubend in Bewegung setzten, und fuhr mit der Ernte davon.
    Der Bauer schaute ihm nach. A uf seiner Miene spiegelten sich weder W ut noch Ärger über den dreisten Diebstahl. »Schade«, sagte er nur. »Wir hätten für den Mais gute V erwendung gehabt.«
    »So dient er nun dazu, dass die Pferde der Magier im W inter keinen Hunger leiden«, sagte seine Frau. »Und der Ochse wird dem Meistermagier sicher vorzüglich munden. W ir können uns glücklich schätzen, dass wir den Ehrwürdigen mit unserer bescheidenen Ernte helfen konnten.«
    »Ja, das ist wahr.« Der Bauer nickte. »Mit etwas Glück und A usdauer werden wir im W ald gewiss noch Eckern und Eicheln für das V ieh finden. Kommt Kinder, wir dürfen nicht ausruhen.«
    »Das ist ungerecht!« Jemina fehlten die W orte.
    »Ja, es ist ungerecht.« Galdez nickte. »Und doch geschieht es jeden T ag aufs Neue. Mais, W eizen, Hafer, Äpfel, Kohl, V ieh, Frauen und auch Kinder … Die Magier nehmen sich, was sie wollen, ohne zu fragen, weil die Selketen unfähig sind, sich zu wehren.«
    »Aber das ist noch nie zuvor passiert …« Jemina konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine so schlimme Szene erlebt zu haben.
    »Noch nie passiert?« Galdez lachte traurig und schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, was du da redest – Rik machte mich schon darauf aufmerksam als er noch ein Knabe war, aber blind wie ich war, habe ich es nicht so empfunden wie er. Ich war wie die Bauern, immer glücklich, wenn ich den Magiern einen Dienst erweisen konnte. Die Garde kam in jedem Sommer und nahm mir meinen Honig. Es blieb kaum etwas für mich übrig, denn ich habe nie daran gedacht, etwas für mich zu verstecken. Dennoch habe ich mich nie über die Unverfrorenheit geärgert, mit der die Garde vorgeht. Rik hingegen war immer furchtbar wütend und schimpfte sie Diebe. Damals konnte ich sein V erhalten nicht verstehen.«
    »Ich kann mich nicht erinnern, dass mir je so etwas passiert ist«, sagte Jemina, immer noch erschüttert von den Bildern, die Galdez ihr gezeigt hatte. »Und ich kann nicht glauben, was ich gesehen habe.«
    »Du kannst dich nicht erinnern, weil du die Ungerechtigkeiten nie gespürt hast«, sagte Galdez. »Erst jetzt empfindest du es so.«
    »Warum erst jetzt?« Jemina runzelte die Stirn.
    »Weil du durch den T od wieder ganz geworden bist«, erklärte Galdez. »Der helle und der dunkle T eil deiner Seele haben wieder zusammengefunden. W enn du zurückkehrst, wirst du Rik sehr ähnlich sein. Dann bist auch du das, was die Magier ›unrein‹ nennen.«
    »Aber der Neunte Zirkel …!« Jemina schaute Galdez hilflos an. »Ich … ich bin doch gekommen, damit wir einen

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