Die Hüterin des Schattenbergs
Gefahr auf dich nimmst.«
»Das Schicksal fragt nicht, ob uns der W eg recht ist, den es für uns ersonnen hat.« Jemina nahm die Phiole und zog den Stopfen heraus. »Halte mich fest«, bat sie mit bebender Stimme und griff nach seiner Hand.
Rik hauchte ihr einen Kuss auf die W ange. »Ich bin bei dir«, versprach er feierlich. »Was immer auch geschieht.«
»Ich weiß.« Sie schaute ihn an und lächelte. Es war ein warmes und trauriges Lächeln, wie ein A bschied. Dann setzte sie die Phiole an die Lippen und leerte sie mit einem Zug.
5
N iemals hätte Jemina es für möglich gehalten, dass ein Gift von so scheußlicher Farbe so köstlich schmecken würde. Lieblich und süß rann es ihr die Kehle hinab. Nur ein leichtes Brennen trübte den Geschmack. Sie schaute Rik an und wollte ihm sagen, dass alles gut werden würde, aber das Gift begann bereits zu wirken und ihr fehlte die Kraft, den Mund zu öffnen. Dann kam die Dunkelheit. Sanft und ohne Qualen löschte sie Jeminas Bewusstsein aus.
Als sie wieder etwas wahrnahm, war ihr, als würde sie von oben aus dem T annengeäst auf Rik und ihren Körper hinabsehen. Rik hatte ihren Kopf auf seinen Schoß gebettet. T ränen rannen ihm über das Gesicht, während er ihr zärtlich mit der freien Hand über das Haar und die bleichen W angen strich. Seine Hand hielt die ihre fest umschlossen. So wie er es ihr versprochen hatte.
Jemina nahm das alles fast überdeutlich wahr, jedoch ohne dass es sie berührte. Sie erkannte ihren Körper, spürte aber keine V erbindung mehr zu ihm. Er war wie ein Haus, das sie verlassen hatte, wie Ballast, den sie abgeworfen hatte … Sie brauchte ihn nicht mehr. Sie war frei.
Ganz unvermittelt überkam sie eine heftige Sehnsucht, die fast so alt war wie sie selbst. Ein V erlangen nach etwas, das sie vor langer Zeit verloren hatte, nach etwas, das zu ihr gehörte wie kaum etwas anderes. Zu Lebzeiten hatte sie es stets verleugnet, aber tief in ihrem Innern hatte sie es immer vermisst. Nun war sie frei von den Zwängen, die ihr die Sterblichkeit auferlegt hatte und konnte sich zurückholen, was ihr vor langer Zeit entrissen worden war.
Als sie wieder nach unten blickte, sah sie zwei Fremde im Schatten der T anne sitzen. Ein junger Mann, der um seine Liebste trauerte. Das Bild löste keine Gefühle in ihr aus. Ohne sich noch einmal umzublicken, schwebte sie davon, schneller und immer schneller auf den Ort zu, an dem die andere Hälfte ihres Selbst auf sie wartete.
Pfeilschnell schoss das Land unter ihr dahin, golden im Licht der aufgehenden Sonne. Der Schattenberg, ihr Ziel, tauchte am Horizont auf, wurde größer und größer, verbarg den Himmel und ragte schließlich als steile Felswand vor ihr auf. Mühelos und ohne zu zögern glitt sie hindurch und tauchte ein in eine W elt aus Stein.
Sofort war Jemina umringt von kleinen, grauen und wolkenartigen Gebilden. Die meisten hatten sich an einer unsichtbaren Grenze zusammengefunden, wo sie ungeduldig hin und her schwebten oder gegen die Barriere stießen, als wollten sie deren Festigkeit prüfen. Eines dieser Gespinste vereinte sich gerade mit einer silbrig schimmernden W olke. Die Farben verschmolzen zu einem hellen Grau und das Paar überschritt die Grenze völlig ungehindert.
Neugierig geworden, versuchte Jemina, auch mit einem der grauen Gespinste zu verschmelzen, doch immer, wenn sie eines von ihnen berührte, prallte sie zurück, als würden man sie zurückstoßen. Jemina überlegte. Obwohl alle gleich aussahen, schienen die grauen W ölkchen unterschiedlicher A rt zu sein. Dennoch musste es unter ihnen eines geben, das zu ihr passte. Nur welches?
Schwester? Jemina sandte einen stummen Ruf aus und wartete. Er blieb nicht ungehört. A ls hätte es nur darauf gewartet, schoss aus der grauen Masse ein W ölkchen heran und glitt, ohne zu verharren, mitten in Jemina hinein.
Das Zusammentreffen glich einem Donnerschlag.
Ein greller Blitz löschte den A nblick des Felsgesteins aus. W as blieb, waren unzählige Farben, die sich wie bei einem wirbelnden T anz schnell umherbewegten. Dabei suchten, fanden und vereinten sich die hellen und dunklen T öne einer jeden Farbe, sodass ein neuer Farbton entstand. A us Dunkelrot und Rosa wurde ein wunderschönes Purpur, aus Dunkelblau und Hellblau ein prächtiges A zur. A ls alle Farben verschmolzen waren, kehrte Ruhe ein. Die Dunkelheit kam zurück und hüllte Jemina in ihren samtenen Mantel.
Dann sah sie das Licht. W ie ein warmer Schein am Ende
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