Die Hüterin des Schattenbergs
der Ursketen geschützt hatte, war vier Generationen zuvor gegen ein kunstvoll geschmiedetes T or aus reinem Gold ausgetauscht worden, an dem der Legende nach zwei Generationen von Goldschmieden über einhundert Jahre lang gearbeitet hatten. B edeutende Szenen aus der Geschichte Selketiens waren dort umrahmt von Efeuranken in vergoldeten Bildern dargestellt. Das größte in der Mitte zeigte Orekh, wie er den mächtigen Zauber wob, mit dem er die Menschen von allem Bösen befreit und dem blutigen Krieg zwischen Ursketen und Selemiten ein Ende bereitet hatte.
Jemina hätte das T or gerne in Ruhe betrachtet, aber die W achen hatten den W eg freigegeben und Rik ritt bereits unter dem T orbogen hindurch. Jemina musste sich beeilen, um ihm zu folgen. Ein gutes Stück hinter dem T or saßen sie ab und übergaben die Pferde an drei Stallburschen. Zu Fuß ging es über einen weitläufigen, mit kleinen, bunten Steinen gepflasterten Hofplatz, an dessen Ende sich eine breite T reppe in einem weiten Bogen zum Eingangsportal der Residenz des Meistermagiers emporschwang.
Ein filigranes Geländer aus schneeweißem Stein machte aus der T reppe ein kleines Kunstwerk, das jedem Steinmetz zur Ehre gereichte. Fast kam es Jemina so vor, als sei sie selbst eine berühmte Magierin, während sie die Stufen empor schritt. A ber der Zauber des A ugenblicks verflog, als die W achen am Ende der T reppe ihre Lanzen kreuzten und ihnen mit knappen und harschen W orten den Einlass verwehrten.
Wieder war es der Bote, der mit den W achen sprach, und kurz darauf ließen auch sie die drei passieren.
»Wir sind gleich da.« Der Gesandte des Meistermagiers deutete auf eine T ür, etwa zwanzig Schritte entfernt. »Hoffen wir, dass deine Nachricht für Corneus wichtig genug ist!«
»Galdez ist tot?« Corneus Stimme klang heiser, als er die W orte des Eleven wiederholte, der sich ihm als Galdez’ Schüler Rik vorgestellt hatte. Schnell räusperte er sich und fügte hinzu: »Das ist unmöglich.«
»Es ist wahr.« Der Junge hielt seinem Blick mühelos stand. »Galdez ist tot und alle anderen Hüter auch.«
»Alle …?« Corneus schluckte trocken. A ngesichts der ungeheuerlichen Nachricht fehlten ihm die W orte.
»Sie ertranken im Nebelsee, als ihr Boot kenterte«, antwortet der Elev mit gleichmäßiger Stimme. Er deutete auf die junge Frau, die neben ihm stand. »Sie wurde Zeugin des Unglücks. Ein Irrtum ist ausgeschlossen.«
»Stimmt das, Mädchen?« Corneus musterte die junge Frau, während sich seine Gedanken überschlugen. Die Nachricht vom T od der Hüter war von einer T ragweite, die geeignet war, das Leben in Selketien bis in die Grundfesten zu erschüttern. V or allem aber bot sie ihm eine Gelegenheit, auf die er so sehnlich gehofft hatte. Corneus hatte große Mühe, sich seine A nspannung nicht anmerken zu lassen. A uf keinen Fall durften die beiden bemerken, dass er sich über die Nachricht freute.
»Ja.« Die Stimme der jungen Frau war nicht mehr als ein Flüstern.
»Wer bist du?«, wollte Corneus wissen.
»Ich bin Jemina, die Eleve der Hüterin Efta.« Das Mädchen blickte kurz zu Boden, straffte dann die Schultern und schaute Corneus direkt an. »An dem T ag, bevor die Hüter starben, habe ich meine Prüfung zur Novizin auf Doh-Jamal abgelegt. Sie waren auf dem W eg über den Nebelsee, um mich von der Insel abzuholen, als ihr Boot kenterte.« Sie senkte den Blick und berichtete in kurzen und knappen Sätzen, was sie in der V ision gesehen hatte. »… Ich bin sicher, dass die Nerbuks mir die V ision geschickt haben, damit ich weiß, was geschehen ist.«
Corneus antwortete nicht sofort. Er glaubte Jemina allein schon deshalb, weil das V olk von Selketien nicht in der Lage war zu lügen. Zudem erklärte der V orfall die Unruhe der Schatten. Offenbar hatte der V erfall der Magie unmittelbar nach dem T od der Hüter begonnen.
So schnell …
»Ich hab es geahnt«, murmelte er mehr zu sich selbst und fügte in Gedanken hinzu: Ich wusste, dass so etwas passieren würde – irgendwann. Ich wusste es …
Corneus überlegte fieberhaft. A llen V orahnungen zum T rotz erreichte ihn die Nachricht an diesem A bend völlig überraschend. Es hatte keine A nzeichen für die nahende Katastrophe gegeben. Keine ihm bekannte Prophezeiung kündete davon und auch die Orakel, denen sich die Magier gern bedienten, hatten geschwiegen.
Ohne Zweifel war dies die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte. Er könnte in die Kellergewölbe gehen,
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