Die Hüterin des Schattenbergs
seinen Zauber vollenden und die Schatten im Berg vernichten, ehe sie gefährlich werden konnten, aber er zögerte. A uch ein Meistermagier hatte sich an die Regeln und V orschriften der Kaste zu halten. Die Ratsmitglieder waren nicht dumm. Er wusste, dass sie selbst in einer Notlage wie dieser darauf bestehen würden, zuerst nach einer Lösung zu suchen, die mit Orekhs Lehren und A nweisungen vereinbar war, und er war noch nicht mächtig genug, um sich den Rat gefügig zu machen.
Aber gab es überhaupt eine Lösung? Corneus runzelte die Stirn. Orekh hatte der Nachwelt eine V ielzahl von Regeln hinterlassen, in denen man nachlesen konnte, wie der Schattenzauber angewendet und erhalten werden konnte. Sorgfältig hatte er festgelegt, was beim T od eines Hüters zu tun war und wie eine Lücke, die durch Krankheit oder A bwesenheit eines Hüters entstand, überbrückt werden konnte. Dass aber alle Hüter auf einmal durch ein Unglück ums Leben kamen, damit hatte Orekh offenbar nicht gerechnet.
»… und hatten gehofft, dass Ihr uns helfen könnt«, hörte er die Novizin in seine Überlegungen hinein sagen. »Ihr seid der Meistermagier und steht dem Rat vor. Sicher hat Orekh Euch A nweisungen hinterlassen, wie die Schatten aufgehalten werden können.«
Corneus räusperte sich. »Nun ja …«, begann er gedehnt. »In der Regel ist es so, dass der Novize eines verstorbenen Hüters unverzüglich zu dessen Nachfolger benannt wird.«
»Aber außer Jemina gibt es nur Eleven, keine Novizen«, bemerkte Rik. »Nach den Regeln können diese die Nachfolge erst antreten, wenn die Nerbuks uns geprüft haben.«
»So lange können wir nicht warten.« Corneus schaute Rik an. »Die Eleven sind in Galdez’ Haus, richtig?«
Rik nickte.
»Gut. Ich werde sofort Reiter aussenden, sie zu holen. Dann können sie schon morgen hier sein.«
»Aber sie sind noch nicht bereit. Die Prüfung …«
»Unsinn, natürlich sind sie bereit.« Corneus unterbrach Rik mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Die Prüfung im Nebelsee ist entbehrlich. Ein nettes Ritual, um die Hierarchie innerhalb des Zirkels zu erhalten, mehr nicht.«
»Ist das wahr?« Der Elev und die Novizin wechselten betroffene Blicke. »Und warum wurde sie dann all die Jahre durchgeführt?«
»Weil Menschen Rituale brauchen«, erklärte Corneus, dem der Sinn nicht nach langen Erklärungen stand. »Das solltet ihr doch am besten wissen. Um ein Hüter werden zu können, ist diese Nerbuk-Prüfung nicht von Belang.«
Wieder sahen sich der Junge und das Mädchen an. »Aber die Nerbuks wurden von Orekh geschaffen, um zu verhindern, dass ein Unreiner sich dem Zirkel anschließen kann.«
»Das stimmt. Damals mag die Prüfung auch noch einen Sinn gehabt haben, denn es gab noch viele unreine Seelen in Selketien.« Corneus, der sich in Gedanken bereits damit beschäftigte, wie er seinen Zauber am Schattenberg schnell und effektiv einsetzen konnte, nahm einen tiefen A temzug. Die Unterhaltung mit den Halbwüchsigen war ihm lästig, aber er konnte sie auch nicht einfach vor die T ür setzen, denn er brauchte sie noch. »Heute werden die Unreinen schon als Kleinkinder zu uns Magiern gebracht, damit sie keinen Schaden anrichten können«, erklärte er abschließend. »Die Bewohner Selketiens sind frei von allem Bösen – somit ist die Prüfung überflüssig.«
»Das … das kann ich nicht glauben.« Jemina schüttelte den Kopf. »Ich habe die Prüfungen bestanden. Ich bin den Nerbuks begegnet. Ich spüre, dass das, was da aufDoh-Jamal geschieht, wichtig ist.«
»Unsinn. Das ist T heater. Eine Gaukelei, nichts weiter!« Corneus sah, wie die Novizin unter seinen scharfen W orten zusammenzuckte und ermahnte sich zur Zurückhaltung. Die Reinen waren einen solchen T onfall nicht gewohnt. »Wenn ihr mir nicht glaubt, können wir gern jemanden zu Rate ziehen, der es wissen muss. Mein geschätzter Freund Ulves, unser Zeremonienmeister, hat schon viele Novizen zu Hütern geweiht. W ie kein anderer kennt er sich mit den Geheimnissen des Zirkels aus, denn er hat Orekhs Schriften länger und genauer als alle anderen studiert.« Er schaute erst Rik und dann die Novizin an.
»Verzeiht, dass wir an Euren W orten zweifeln«, ergriff der Junge Rik wieder das W ort. »Aber es ist nur schwer zu glauben, dass wir mit einer Lüge aufgewachsen sind.«
»Die W ahrheit ist oft schwer zu ertragen.« Corneus seufzte, ging zur T ür, öffnete sie und sagte etwas zu einem der Pagen, die davor warteten. Dieser nickte,
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