Die Hüterin des Schattenbergs
Mal, dass Jemina jemandem begegnete, der als Kind nicht von den Hütern, sondern von den Magiern dem Ritual der Reinheit unterzogen worden war. Da die Dienerin ein ärmelloses Gewand trug, war die weiße Sichel auf ihrem Oberarm gut zu erkennen gewesen. W ährend sich die Sichel bei einem Reinen aber nach rechts öffnete, war die Sichel auf dem A rm der Dienerin nach links geöffnet – das Zeichen dafür, dass sie nicht durch die Hüter hatte gereinigt werden können. Jemina hatte immer geglaubt, die geläuterten Unreinen, die in der Obhut der Magier aufgewachsen waren, würden anders sein. Umso erstaunter war sie, dass sie keinen Unterschied zu den übrigen Bewohnern Selketiens feststellen konnte.
Nun lag Jemina in dem sauberen weichen Bett, starrte auf die W and gegenüber den bunt verglasten Fenstern, wo der Mond mit seinem Licht farbige Muster auf den weißen Kalk zeichnete, und dachte darüber nach, wie es den Magiern wohl gelingen mochte, die unreinen Kinder von ihrem Übel zu befreien.
Schlaf fand sie keinen. Obwohl die vergangenen T age sehr anstrengend gewesen waren und sie sich zum ersten Mal wieder sicher und geborgen fühlte, wollte sich keine Müdigkeit einstellen. Zu viel war geschehen, was ihr durch den Kopf ging, zu fremd war ihr der Raum mit all den Geräuschen und Gerüchen, deren Ursprung sie nicht kannte. Zu sehr belasteten sie die Gedanken an die Zukunft und daran, was wohl aus ihrer Heimat werden würde, wenn die Schatten sich wirklich aus dem Berg befreien und wieder in die Seelen der Menschen eindringen konnten.
Ob es wehtut, wenn sie zurückkehren? Was wird dann aus mir? Werde ich mich verändern? Je länger Jemina darüber nachdachte, desto mehr fürchtete sie sich. Sie betete darum, dass der Zeremonienmeister mit seiner Suche Erfolg haben würde.
Wenn es etwas gibt, was ich dazu tun kann, damit die Schatten im Berg bleiben, werde ich es tun, dachte sie bei sich. Als Eleve habe ich geschworen, die Magie der Hüter weiterzutragen und den Frieden in Selketien zu erhalten. Dazu stehe ich, ganz gleich, was ich dafür tun muss.
Der Gedanke gab ihr ein wenig Halt, trotzdem sehnte sie den Morgen herbei, denn schlimmer noch als in einem fremden Bett und in einem fremden Raum zu liegen, war die Untätigkeit.
Wenn ich einschlafe, kommt der Morgen schneller, überlegte sie und kniff die A ugen fest zusammen. A ls sie die A ugen wieder öffnete, waren die Lichtmuster an der W and kaum weitergewandert. Jemina seufzte und verschränkte die A rme hinter dem Kopf. W enn der Schlaf nicht zu ihr kommen wollte, würde sie eben wach bleiben, bis es hell wurde. V or ihrem geistigen A uge tauchte Eftas A ntlitz auf. Die Hüterin lächelte ihr zu. Sie hatte immer gelächelt …
Jemina schluckte trocken. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, übermannte sie die T rauer. Es war, als hätte sie sich die ganze Zeit in einem W inkel ihres Bewusstseins versteckt und nur auf einen günstigen A ugenblick gewartet, um wie ein hungriges Raubtier über sie herzufallen.
Ihre Kehle wurde eng. Die A ugen füllten sich mit T ränen. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Kissen, während die schrecklichen Bilder der ertrinkenden Hüter noch einmal an ihr vorüberzogen und sie immer wieder eine Stimme hörte, die sie vorwurfsvoll fragte: »Warum hast du ihnen nicht geholfen?«
Jemina erwachte, weil ihr die Sonne ins Gesicht schien. Lange konnte sie nicht geschlafen haben, denn das Kissen unter ihrer W ange war noch feucht von den T ränen.
Wieder musste sie an Efta denken. Es tat noch weh, aber auf unbestimmte W eise war die T rauer weniger schmerzhaft. Es war, als hätten die T ränen einen T eil des Kummers fortgewaschen. A uch die Sonne trug dazu bei, dass ihr die Zukunft nicht mehr ganz so hoffnungslos erschien. Jemina drehte sich auf den Rücken und gönnte sich noch einen A ugenblick der Ruhe. Sie hatte es nicht eilig, den T ag zu beginnen, denn was er bringen würde, war ungewiss.
Es dauerte nicht lange, da wurde die T ür geöffnet und die Dienerin kehrte zurück. Über dem A rm trug sie Jeminas Kleider, die gewaschen und schon getrocknet waren.
Auf Jeminas Frage, wie das möglich sei, lächelte die Dienerin schüchtern, zog die Schultern in die Höhe und sagte: »Das ist immer so.«
Jemina gab sich damit zufrieden. Zweimal hatte sie am A bend versucht, ein Gespräch mit dem Mädchen zu beginnen, aber schnell festgestellt, dass dieses ihr auswich und nur das Nötigste antwortete.
»Vielleicht hat sie
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