Die Hüterin des Schattenbergs
majestätischer als alles, was sie bisher gesehen hatte. A uch viele Hundert Jahre nach Orekhs T od reckten sich die zwölf T ürme der legendären Feste immer noch so stolz und unbeugsam dem Himmel entgegen, als wären die Jahrhunderte spurlos an ihnen vorübergegangen.
Wäre der W ind nicht gewesen, der seufzend und klagend durch die Mauerritzen strich, und die Dunkelheit hinter den Fenstern, die Jemina wie schwarze A ugen anzustarren schienen, man hätte glauben können, vor einer Festung zu stehen, deren Räume und Gebäude von emsiger Geschäftigkeit erfüllt waren.
»Das ist … überwältigend.« Der alte Fluchtweg hatte sie unweit der Feste an einem Ort aus dem Schacht entlassen, von wo aus sie einen hervorragenden Blick auf die Hohe Feste hatten.
»Ich sehe gar keine Steine.« Rik hatte sich die Mauern offenbar schon etwas genauer angesehen. »Und keine Fugen.«
»Das wirst du auch nicht.« Salvias grinste. »Orekh ließ die Hohe Feste direkt aus dem massiven Gestein der Bergspitze herausschlagen. Hunderte Steinmetze arbeiteten mehr als fünfundzwanzig Jahre daran, dieses Bauwerk zu erschaffen.«
Jemina staunte. »Davon habe ich schon gehört, aber ich konnte es nicht glauben.« A ufmerksam schaute sie sich um. Die Hohe Feste folgte mit ihrer Form genau dem V erlauf der ursprünglichen Bergspitze. So waren die vier T ürme in der Mitte am höchsten, während die acht T ürme nahe der A ußenmauer deutlich niedriger waren. A m Fuß der Feste ging der Boden nahezu übergangslos in einen Gebäudekomplex über, der den A nschein erweckte, als würden die äußeren Mauern unmittelbar dem Felsgestein entwachsen.
Salvias nickte. »Ein wahres Meisterwerk, geschaffen für die Ewigkeit. V or allem wenn man bedenkt, dass die Steinmetze es von oben nach unten errichtet haben und nicht, wie bei Gebäuden allgemein üblich von unten nach oben.«
»Wenn ich ehrlich bin, ist es mir egal, wie die Burg erbaut wurde«, grummelte Rik, der neben Jemina stand. »Wir haben uns schließlich nicht den ganzen W eg hier heraufgequält, um das Gemäuer zu besichtigen. Die Sonne hat den Zenit schon überschritten. Mit etwas Glück können wir die Feste verlassen, ehe es dunkel wird.« Er schaute Salvias auffordernd an. »Also? W as ist?«
Salvias hob die Hand und deutete mit dem ausgesteckten Zeigefinger an der Festungsmauer entlang. »Wenn ihr der Mauer folgt, findet ihr hinter der ersten Biegung das Eingangstor zur Feste«, erklärte er. »Geht hindurch, dann gelangt ihr auf eine breite Gasse, die schnurgerade mitten ins Herz der Feste führt, und auf einen kreisrunden Platz, an dessen Rand die vier inneren T ürme aufragen. W ählt einen davon aus, für welchen ihr euch entscheidet, ist gleichgültig. A lle vier Eingänge führen in ein großes Gewölbe unterhalb des Platzes. In diesem Gewölbe soll sich neben Orekhs Laboratorien auch eine Bibliothek befinden. V ermutlich ist das der Ort, an dem ihr das Buch suchen müsst.«
»Vermutlich?« Rik runzelte die Stirn. »Kannst du das nicht etwas genauer sagen?«
»Nein.« Salvias schüttelte den Kopf. »Ich habe das T or zur Feste nie durchschritten. A lles was ich weiß, hat Meister Ulves dem Bauplan der Hohen Feste entnommen, der in der Feste der Magier verwahrt wird.«
»Was ist mit all den anderen, die vor uns hier waren?«, wollte Rik wissen. »Was haben sie berichtet?«
»Nichts.« In Salvias A ugen blitzte es belustigt auf.
»Warum nicht?«
»Weil kein Einziger von ihnen jemals wieder herauskam.« Salvias grinste spöttisch. »Und ich werde ganz sicher nicht mitkommen.«
Rik schnaubte verächtlich. »Da hat Corneus uns wahrlich mutige Männer zur Seite gestellt.«
»Mut und Dummheit liegen oft nicht mal eine Haaresbreite auseinander«, erwiderte Salvias gelassen. Er deutete auf seine Füße. »Bis hierher ist es Mut. Jeder weitere Schritt wäre Dummheit.«
Er schaute Rik von der Seite her an. »Glaub mir, Junge. Ich weiß, wovon ich rede.«
»Vermutlich hast du hier schon viele um Hilfe schreien hören«, folgerte Rik unterkühlt.
»Ein paar schon.«
»Natürlich ohne ihnen zu helfen.«
»Natürlich! Ich bin doch nicht lebensmüde.« Salvias lachte. »Wer ins Feuer geht, kommt darin um«, zitierte er einen alten Spruch der Ursketen.
»Aber diesmal hängt das Schicksal unseres Landes davon ab, ob wir Erfolg haben«, warf Jemina ein. »Ist dir das denn gar nichts wert?«
»Ich werde dieses Schicksal nicht ändern können, wenn ihr scheitert. Entweder sie
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