Die Hüterin des Schattenbergs
haben.«
»Tragisch nur, dass sie scheitern wird.«
»Ja, tragisch …« Ulves ließ den Satz unvollendet. »Alle hier kennen die Namen der Dummköpfe, die sich auf den W eg zur Hohen Feste gemacht haben und nie zurückkehrten. Ein toter Dummkopf mehr wird bei niemandem V erwunderung auslösen.« Sein Lächeln wurde ein wenig boshafter. »Angesichts der knappen Zeit, wird sich kein einziges Ratsmitglied gegen deine Künste aussprechen. Im Gegenteil! Sie werden sogar glücklich sein, wenn du ihnen einen A usweg zeigst. Und dann werden sie dich als Helden und Retter feiern. Ich würde mich nicht wundern, wenn dein Bildnis in ein paar Monaten denen des ehrwürdigen Orekhs Gesellschaft leistet.«
»Ein wahrlich verlockender Gedanke.« Corneus fuhr sich mit der Hand nachdenklich über das Kinn. Ulves hatte recht. Der Rat der Magier musste so schnell wie möglich über den T od der Hüter informiert werden. Sonst würden sie ihm später vorwerfen, alles für sich behalten zu haben. Zunächst aber musste er unbedingt noch einen letzten V ersuch für die magische Formel durchführen, um deren W irksamkeit zu testen. Die Geräte dafür standen seit Monaten ungenutzt in einem der Kellergewölbe der Feste. W enn die Drachenreiter dann mit dem Buch zurückkehrten, war alles für den großen T riumph vorbereitet.
Jemina wagte weder darüber nachzudenken, wie viele Stufen sie schon erklommen hatte, noch wagte sie, einen Blick über die linke Schulter zu werfen. Kaum einen Meter neben ihr tat sich der gähnende A bgrund des Schachts wie ein riesiges schwarzes Maul auf. Ihre Beine waren von dem endlosen A ufstieg schwer wie Blei und schmerzten so sehr, dass sie sich zwingen musste, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie wusste nicht, wie spät es war oder wie weit sich die T reppe vor ihr in der Dunkelheit noch in die Höhe wand. Sie wusste nur, dass sie A ngst hatte – furchtbare A ngst.
Rik hielt unerschütterlich ihre Hand. Nicht ein einziges Mal hatte er sie losgelassen, seit er die Führung übernommen hatte. Gern wäre sie so mutig gewesen wie er und hätte den W eg ohne Hilfe zurückgelegt. A ber die Dunkelheit und das W issen um den T od, der unmittelbar neben ihr lauerte, hielten sie fest im Griff. Inzwischen hatte sie erkannt, dass sie die Gefahren ihrer Suche völlig unterschätzt hatte – aber auch, dass es für eine Umkehr längst zu spät war. So biss sie die Zähne zusammen und quälte sich Schritt um Schritt voran. Rik sollte sie nicht für schwach und feige halten. Sie war froh, ihn an ihrer Seite zu wissen. In ihren A ugen verkörperte er all das, was ihr fehlte, und sie fragte sich, warum Galdez ihm die Novizenprüfung verwehrt hatte.
»Achtung, jetzt kommt ein schmaler Durchlass!«, hörte sie Salvias, der die Gruppe immer noch anführte, in ihre Gedanken hinein rufen. Riks Rücken versperrte ihr die Sicht. Erst als er den A rm ausstreckte und mit der Fackel eine gewaltige runde Steinplatte beleuchtete, die den Schacht über ihnen wie eine Zwischendecke verschloss, erkannte sie, wovon Salvias gesprochen hatte. In der Steinplatte befand sich ein Durchlass; ein finsteres Rechteck am Ende der T reppe, gerade groß genug, dass ein Mensch sich hindurchzwängen konnte.
Jemina fiel ein Stein vom Herzen, als sie den Durchgang erblickte. Selbst wenn die T reppe danach weiter in die Höhe führte, würde der A bgrund in der Mitte des Schachts nicht mehr so tief und furchterregend sein. V oller Ungeduld beobachtete sie, wie Salvias sich als Erster hindurchzwängte. Bevor Rik ihm folgte, hielt er kurz inne und drehte sich zu Jemina um. »Ich muss dich jetzt loslassen. Hab keine A ngst. Du schaffst das. Ich warte auf der anderen Seite und helfe dir.«
Jemina nickte. Die A ussicht auf festen Boden unter den Füßen zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. W ortlos löste sie ihre Finger aus Rik Hand und beobachtete, wie er durch die Öffnung kletterte.
Als der Durchlass frei war, folgte Jemina ihm so schnell sie konnte. Fort, nur fort, von dem grauenhaften A bgrund, der nur darauf zu warten schien, das nächste Opfer zu verschlingen. Die Fackel in der linken Hand ausgestreckt vor sich haltend, die rechte Hand fest um den oberen Rand der Öffnung gekrallt, schob sie sich langsam durch den Durchlass – und sah sich erstaunt um.
Tatsächlich verlief die T reppe auch jenseits der Zwischendecke aufwärts, aber weit oben, vielleicht hundert oder zweihundert Stufen über ihr, erkannte sie einen weiteren rechteckigen
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