Die Hüterin des Schattenbergs
Kopf. Der Gedanke weckte Panik in ihr. Sie verstärkte ihre A nstrengungen, versuchte, sich zu befreien und öffnete den Mund, um Rik zur Hilfe zu rufen, aber was sie auch tun wollte, es scheiterte schon im A nsatz.
Was geschah mit ihr? Die Furcht schnürte ihr die Kehle zu und machte jeden A temzug zur Qual. W o war Rik? W ar er noch am Leben? W ar sie noch am Leben? Die Dunkelheit und Stille ließen keinen Raum für A ntworten.
Das W arten schien Jemina eine kleine Ewigkeit zu dauern. Dann wich die Dunkelheit wie bei einem Sonnenaufgang langsam zurück und das Gefühl des Gertragenwerdens verschwand. Jemina spürte wieder den harten Fels an ihrem Rücken. Sie versuchte erneut, den A rm zu bewegen – und diesmal hatte sie Erfolg.
Ich bin frei! Jemina atmete auf. V orsichtig richtete sie sich auf, schaute sich um und stellte fest, dass sie auf einer steinernen Bank lag. Obwohl es schon sehr viel heller geworden war, konnte sie nicht viel mehr als die W and hinter sich und einen T eil des Bodens erkennen, denn nun versperrte ihr ein Nebel in zarten violett und weiß schimmernden Farben die Sicht.
Violett und weiß!
Jemina musste nicht lange überlegen, um sich zu erinnern, wo sie diesen seltsamen Nebel schon einmal gesehen hatte: W ar es möglich, dass die Nerbuks …? Ihr blieb keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu führen, denn der Nebel begann sich zu verändern. W ie schon auf Doh-Jamal teilten sich die Schwaden an einigen Stellen und verdichteten sich an anderen, sodass es aussah, als führten sie einen stummen T anz auf. Das Spiel der Formen und Farben setzte sich fort, bis Jemina sich den Nerbuks gegenüber sah.
Jemina blinzelte verwirrt. »Seid ihr die W ächter der Hohen Feste?« Sie hatte mit furchteinflößenden Geschöpfen oder grausamen Bestien gerechnet. Die Nerbuks hingegen machten ihr keine A ngst.
Die Nerbuks antworteten nicht. Sie standen einfach da und starrten Jemina aus dunkeln, leeren A ugenhöhlen an. W ieder hatte sie auf unbestimmte W eise das Gefühl, geprüft zu werden, doch anders als auf Doh-Jamal gab es diesmal keine T entakeln, die sie berührten. A lles, was sie spürte, war eine sanfte Berührung des Geistes. Nichts Böses lag darin, nur Neugier und die Suche nach A ntworten.
Jemina entspannte sich. Sie hatte nichts zu verbergen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, formte sie in Gedanken die W orte: » Ich bin hierher gekommen, weil ich das Buch des Lebens suche. Ich will es nicht für mich, sondern für Corneus, den Meistermagier. Sicher wisst ihr es schon: Die Hüter sind tot. Orekhs Magie droht zusammenzubrechen. Wenn wir keinen Weg finden, die Magie des Schattenbergs zu erhalten, werden die Schatten bald frei sein.«
Dann fiel ihr noch etwas ein. » Ich bin nicht allein gekommen. Ich bitte euch, tut meinem Begleiter nichts. Er ist ein Elev und muss nach Selketien zurückkehren, sonst sind wir nur neun und können keinen neuen Hüterzirkel gründen.«
Nichts geschah. W ährend sie noch überlegte, ob sie etwas falsch gemacht hatte, rückten die Nerbuks ein Stück auseinander und bildeten eine Gasse, die sich einladend vor Jemina auftat.
Komm.
Wie schon auf Doh-Jamal formte sich das W ort direkt in Jeminas Geist.
Zögernd folgte sie den schwebenden Gestalten, die sie in die Mitte genommen hatten, durch ein wahres Labyrinth aus schmucklosen Gängen und Stollen. Der Steinboden war an manchen Stellen stark abgenutzt und verriet, wie häufig die W ege in der V ergangenheit genutzt worden waren. Zwei staubige Skelette in einer dunklen Ecke erinnerten Jemina daran, dass die Nerbuks nicht jedem freundlich gesinnt waren. Die meisten Stollen waren von einfacher A rt, mit grob behauenen W änden und ohne Zierrat; einige besaßen Halterungen für Fackeln oder kleine Laternen. Manchmal kam Jemina an in den Fels geschlagenen Nischen vorbei, in denen allerlei Gegenstände unterschiedlicher Formen und Größen lagerten, deren Zweck ihr unbekannt war. Obwohl sie gelernt hatte, sich einen W eg gut einzuprägen, hatte sie schon bald die Orientierung verloren. Sie konnte nur hoffen, dass die Nerbuks sie später zum T urm zurückbegleiten würden. A llein würde sie den W eg zurück niemals finden.
Und ich habe geglaubt, ich könnte hier unten allein nach dem Buch suchen, dachte sie ernüchtert, und wunderte sich über die Einfalt, mit der sie an das A benteuer herangegangen war.
Die Nerbuks führten sie in einen schmucklosen Gang, der nach dreißig Schritten vor einer W and endete, ohne
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